Bedretto
Poncione di Cassina Baggio
"Herbstwind", 6b, 12 SL
Nach der langen und erfolgreichen Strahlnersasion regte sich wieder die Kletterlust. Erste Schneefälle bis rund 2000 Meter hinab verhinderten jedoch einen genussvollen Besuch der höhergelegenen Kletterberge im Kanton Uri. Für solche Situationen bieten sich im Val Bedretto durchaus gute Alternativen. Die sonnige Lage und der relativ kurze Zustieg sprachen für die rund 300 Meter hohe Felsflucht des Poncione di Cassina Baggio. Die vier intensiven Monate bei der Kristallsuche hatten mich ermüdet und meine Kletterfitness deutlich geschmälert. Für eine genussvolle Plaisirkletterei sollte es aber noch ganz knapp reichen. Zudem war mit Stine eine verlässliche Kletterpartnerin mit von der Partie, die ganz bestimmt die heissen Kohlen aus dem Feuer holen konnte. Bei der Anfahrt ins liebliche Bedrettotal sorgte der stahlblaue Himmel für beste Laune. Allerdings schlichen bereits erste Wolkenfetzen um die Bergspitzen des Pizzo Rotondo und ein giftiger Nordwind liess uns am Parkplatz leicht erschauern.
Der Zustieg verläuft meist horizontal und führt auf angenehmer Weise in den Geröllkessel unter der anvisierten Wand. Die letzten 10 Minuten hüpften wir von Stein zu Stein, bevor der etwas steilere Schlussaufstieg doch noch ein paar Schweisstropfen zum Fliessen brachte. Auf dem geräumigen Einstiegsplateau bot sich genügend Platz für das Rucksack- und Schuhdepot. Wenig später knüpfte sich Stine ins Seil und führte souverän über den ersten Steilaufschwung. In den nächsten drei Seillängen ist die Wand wieder deutlich geneigter. Die Route «Herbstwind» führt in diesem Abschnitt in geschickter Weise durch die mit Bändern durchzogenen Platten und nutzt die lohnendsten Passagen an Rissen, Kanten und Verschneidungen. Ab Routenmitte wird die Kletterei wieder etwas steiler und damit auch ansprechender. In abwechselnder Führung folgten wir den glänzenden Bohrhaken, die in vernünftigen Abständen stecken und scheinbar vor wenigen Jahren neu gesetzt wurden. Ab und zu entdeckten wir auch ein Relikt aus Zeiten der Erstbegehung.
Inzwischen verdeckte hochnebelartige Bewölkung fast vollständig die Sonne. Im Einklang mit dem auffrischenden Wind kippten die Bedingungen daher von der Komfortzone zunehmend in den Bereich «unangenehm». Besonders beim Sichern an exponierten Stellen war ab und zu ein Zähneklappern zu vernehmen. In den letzten drei Seillängen, die in steiler Manier durch die Headwall führen, generierte de Körper wieder genügend Wärme. Dieser Abschnitt kompensiert die eher mässigen Einstiegslängen und verleiht der Route ein lobenswertes Prädikat.
Der durch Schüttelfrost etwas zittrige Eintrag ins Wandbuch war am höchsten Punkt die einzige Pause, die wir uns gönnten. Wir wollten nun rasch wieder hinab in wärmere Gefilde. Bereits das erste Abseilmanöver endete aber in einem Fiasko. Nach wenigen Metern Seilabzug verklemmte sich der Knopf in einem Riss. Der Wiederaufstieg am Seil verschaffte mir dafür wieder ein paar Minuten mit wohliger Körpertemperatur.
Die restlichen Abseilstrecken verliefen reibungslos, gestalten sich aber im geneigteren Gelände zunehmend arbeitsintensiv. Unten am Einstieg drückte sogar die Sonne wieder durchs Gewölk und wärmte uns rasch wieder auf. Besten Dank an Stine für den lohnenden Ausflug ins Bedrettotal. Treffender könnte der Name unserer gewählten Route nicht sein: Es war «Herbst» und im oberen Teil der Route pfiff uns auch der «Wind» um die kalten Ohren. Schön wars trotzdem!