Mittagfluh "Abadia"
Mittagfluh "Abadia" 7a, 11 SL
Stets hatte ich mir geschworen, nie an einem sonnigen Sommer-Wochenende die Mittagfluh ob Guttannen zu besuchen. Die vielen einfachen Routen in der Südwand, der problemlose Zugang und nun noch der aktuelle, coronabedingte Dichtestress in den Schweizer Klettergebieten sorgen an diesem markanten Felspfeiler für sehr hohe Frequenzen. Unter diesen Bedingungen sollte auch nicht über eine der Südwand-Routen abgeseilt werden, damit nachfolgende Partien nicht durch Steinschlag gefährdet werden.
Nun, Vorsätze werden manchmal über Bord geworfen! Der verlockenden Anfrage von Beat konnte und wollte ich nicht widerstehen. Als Gegenmassnahme gingen wir total antizyklisch vor und gelangten erst um 15 Uhr an den Wandfuss. Dabei wählten wir mit "Abadia" eine der Westwandrouten, die markant weniger frequentiert sind. So sollten wir eigentlich freie Bahn haben, was sich auch bewahrheitete. In der Südwand herrschte um diese Uhrzeit immer noch ordentlich Betrieb - ein munteres Auf und Ab! In unserer Linie war eine Seilschaft just in der überhängenden Schlüssellänge im Ausstiegsbereich am Werk. Der angedachte Plan schien zu funktionieren!
Der eher verspätete Einstieg weist aber auch seine Tücken auf: Sollten wir mehr als sechs Stunden für den Durchstieg brauchen, was andere Partien durchaus schon "geschafft" haben, kämen wir beim Abseilen in die Nacht. Im schlimmsten Fall besteht aber bis zum Ende der sechsten Länge jederzeit eine Rückzugsmöglichkeit. Die darauffolgenden drei Längen müssen aber durchklettert werden, da quergangsbedingt ein Abseilen fast nicht oder nur äusserst mühsam realisierbar ist. Die erste Seillänge beginnt moderat und ist dank der gut platzierten Bohrhaken auch problemlos zu finden. Der Fels ist hier noch ein wenig vom Gletscher geschliffen, aber erstaunlich griffig.
Die zweite, gutmütige Länge erlaubte Beat ein rasches Vorstossen zum zweiten Stand. Bei ihm angelangt, schickte er mich unverzüglich in die nächste Sequenz, die uns mit kleingriffiger Leistenkletterei über drei abdrängende Wülste in lobenswerter Manier überzeugte. Mit 6b+ ist diese Länge eher mild bewertet und die Schwierigkeiten lauern nur an Einzelstellen. Beat folgte zügig und war nach einem kurzen Sicherungswechsel bereits schon unterwegs in der griffigen, aber nicht banalen vierten Länge. Nach gut 45 Metern erreichte er die Südkante, wo wir bereits in die Nähe der dort tätigen Südwand-Aspiranten rückten. In zwei gestreckten Manövern hart an der Abrisskante zur Westwand folgten wir den korrodierten Mammut-Plättchen und gelangten auf eine markante Terrasse. Hier mussten wir wieder nach rechts hinaus in die imposante Westwand. Eine kurze Konsultation des Sonnenstands stimmte uns zuversichtlich - unsere Zeitreserve war immer noch beruhigend gross genug.
Beat übernahm wieder den Lead und stieg souverän durch die geniale Plattenwand. Der Start in diese erste Steilstufe wird mit einem leicht fallenden Quergang gewonnen. Weiter oben wird diese Platte zu einer Art Schrägrampe, deren Verlauf so genial wie offensichtlich ist. In der folgenden Seillänge stieg ich ein paar Meter zu weit durch die rampenartige Verschneidung, musste etwas heikel zurückklettern und erwischte dann schliesslich die ordentliche Rechtsabbiegung. Die chamäleonartige Farbanpassung der Bohrhaken an den umgebenden Fels verlangt hier etwas Sperberaugen. Ich fand lange Zeit den nächsten Haken nicht, obwohl ich einen halben Meter neben ihm stand. Sobald in dieser Länge ein Bohrhaken ungewöhnlich weit rechts aussen steckt, muss man über einen kleinen Wulst rechts hoch und sieht dann schon bald den nächsten Bolt. Beim Schlussspurt zum Stand hoch ist dann noch etwas innere Ruhe nötig. Dieser doch eher weit gesicherte Übergang könnte allenfalls mit einer Zackenschlinge an einer markanten Felsstruktur oder einem Cam rechts aussen zusätzlich entschärft werden.
Nun standen wir unter der steilen Schlüssellänge, die über drei markante Ausbuchtungen doch ziemlich "stotzig" gegen den blauen Himmel hochzieht. Erstaunlicherweise finden sich aber viele Griffe, ein Teil davon ist perfekt, andere eher weniger. Merke: Nicht überall, wo Magnesiaspuren kleben, befindet sich der rettende Griff. Insgesamt ist dies eine fantastische Länge, die durch die einmalige Ambiance zusätzlich gewürzt ist. Unter den Füssen blickt man direkt zum 300 Meter tiefer liegenden Wandfuss. Ein fallender Stein würde die Wand wahrscheinlich nie berühren und im darunter liegenden Grashang aufprallen. In diesem überhängenden Teil wird man aber wohl kaum Zeit und Muse finden um ausgiebig nach unten zu blicken. Erst am Stand oben, der sich direkt an der Südkante befindet, wurde mir diese Ausgesetztheit so richtig bewusst.
Beat folgte rasch und effizient nach und stürmte, geschüttelt vom stark aufgefrischten Talwind, weiter nach oben, wo er nach fast 50 Metern die Ausstiegskante der Mittagfluh erreichte. Inzwischen hatte wir die letzte Seilschaft in der Südwand deutlich distanziert und genossen am "Gipfel" den mitgebrachten Schnupf in vollen Zügen. Da wir in 2h 50min durch die Wand geklettert waren, blieb uns genügend Zeit für den Abstieg, den wir abseilend über eine der zahlreichen Südwandrouten erledigten. Nach 40 Minuten schlüpften wir wieder in die Treckingschuhe und machten uns gut gelaunt auf den Fussmarschzurück zur Grimsel-Passstrasse.
Die Route "Abadia" ist eine wirklich lohnende, eher mild bewerte Route, die ein buntes Potpourri an Kletterzügen bietet. Der griffige Fels bietet ein breites Angebot an Griffen und Tritten. Der Bereich entlang der Südkante ist kurzfristig etwas langweiliger, was durch die folgenden drei Längen im steilen Teil der Westwand aber deutlich überkompensiert wird. Die Absicherung ist vernünftig und an schwereren Stellen genügend vorhanden. Allerdings nagt der Zahn der Zeit an den verzinkten Schlagankern - ein bekanntes Phänomen im eher sauren Granit / Gneis.
Vielen Dank an Beat für die perfekte Idee und das optimale Zeitmanagment. Für solche Aktionen bin ich immer wieder zu haben!