Seewser Schild
Seewser Schild, Brünigpass, 6c, 4 SL
Die vorherrschenden Schneeverhältnisse ab 1500 Meter Meereshöhe erlaubten Mitte April noch keine grossen Sprünge bezüglich Mehrseillängen-Routen. An diesem Samstag hatten sowohl mein Bruder Kurt wie auch meine Kollegin Stine aber ausgiebiges Interesse an einem Klettertag bekundet. Da beide das «Seewser Schild» über dem Brünigpass nicht kannten, schlug ich ihnen einen Besuch dieser imposant steilen Wand vor.
Wir parkten wenige hundert Meter vor der Schwinger-Arena bei einem Holzplatz und wanderten eine halbe Stunde entlang der Forststrasse und einem Wanderweg via Ober-Brünig an den Wandfuss. Der Einstieg, der mit einem alten Schlaghaken und einer vergilbten Repschnur markiert ist, befindet sich ziemlich weit rechts aussen. Blickt man von hier in die weit ausladenden Dächer hoch, bleibt einem kurz die Spucke weg. Bei meinem ersten Besuch rutschte mir selber fast das Herz in die Hose beim Anblick der stotzigen Fluh. Nach mittlerweile vier erfolgreichen Durchstiegen, weiss ich aber, dass die Sache harmloser ist, als sie vom Wandfuss aus erscheint. Für meine beiden Begleiter war dies aber absolutes Neuland und in ihren Gesichtern spiegelte sich die Ehrfurcht vor dieser Route.
Bei meiner letzten Begehung im Jahr 2015 traf ich zufälligerweise einen der damaligen Erstbegeher am Einstieg an: Hans-Ruedi Meyer und sein damaliger Kumpan hatten sich vor 46 Jahren durch die überhängende Wand geschlossert. Es war höchst interessant, seinen Schilderungen zu folgen. In unzähligen Versuchen trotzten sie der Wand Meter um Meter ab und erreichten schliesslich den Ausstieg nach zahlreichen Bohrstunden in Trittleitern. Eine wirklich ergreifende Begegnung, sowohl für uns als auch für Hans-Ruedi, der sichtlich Freude daran hatte: Er war erstaunt, dass Urner Kletterer "seine" Route kennen und geniessen - und dies bereits zum wiederholten Mal.
Heute war aber weit und breit kein Mensch an diesem Stück Fels zu entdeckten. Wir freuten uns daher auf einen stresslosen Klettertag und schirrten uns gemütlich an. Die ersten Meter sind brüchig und verlangen etwas Vorsicht, besonders der zweite Aufschwung, wo noch ein alter, fuchsroter und weit abstehender Ringbohrhaken steckt. Ein Sturz mit ziemlich sicher zu erwartendem Bruch dieses Relikts hätte wohl böse und schmerzhafte Folgen. Weiter oben folgen neue Bohrhaken in kürzesten Abständen und sichern den athletisch zu kletternden Schrägriss mit seinen wie marmoriert daherkommenden Griffen. Der Standplatz mit zwei soliden Bohrhaken ist geräumig und mit einer beruhigenden Kette versehen. Von hier quert man ca. 10 Meter nach rechts, überwindet mit einem kräftigen Zug ein Dach und folgt linkshaltend den vielen Bohrhaken. Ab und zu lacht aus einem Riss ein alter Holzkeil entgegen.
Kurz vor dem zweiten Dach, unter dem man wieder nach rechts quert, werden die Griffe spärlicher und runder. Nach dem langen, teilweise auch etwas fallenden, Rechtsquergang gelangt man wieder auf ein bequemes Felsband mit einer stabilen Eisenkette. Von hier hängen die eingezogenen Seile komplett frei im Luftraum und vermitteln einen faszinierenden Eindruck der herrschenden Steilheit. Mit fünfzig Meter Abseilfahrt könnte man von diesem Stand notfalls auch den Boden erreichen.
Eine rechts wegführende, abdrängende Verschneidung bildet gleich nach dem Start in die 3. Seillänge einen ersten Knackpunkt. Nach der folgenden Dachüberwindung gilt es während 15 weiteren Metern ruhig Blut zu bewahren. In diesem Abschnitt stecken nur die alten Rostlauben, solide Bohrhaken sind erst weiter oben wieder zu klinken. Der Stand ist dann wieder perfekt eingerichtet und das Wandbuch dank Blechbüchse trocken gelagert. Ein letzter Dachaufschwung mit anschliessend heikler Querung nach rechts erwartete uns in der vierten Länge. Der botanische Ausstieg aus der Wand verlangte nochmals etwas Vorsicht, dann aber hatte ich eine massive Buche mit dem Seil umschlungen und konnte meine zwei "Gspändli" nachsichern. Sie strahlten beide herzerfrischend und zeigten sich beeindruckt von dieser imposanten Linie.
Rasch waren die Trekkingschuhe geschnürt und der kurze Aufstieg zur Forststrasse bewältigt. Über ein paar Altschneeresten und vorbei an markanten Gletscherfindlingen gelangten wir entlang der Strasse wieder zur Wiese von Ober-Brünig, wo sich Kurt anerbot, das deponierte Material am Einstieg zu bergen. Nach gefühlten zehn Minuten stand mein Bruder bereits wieder mit allen drei Rucksäcken auf der flachen Wiese und erlaubte uns damit eine ausgiebige Verpflegung mit Speis und Trank. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, was uns voller Motivation zu einem Gebietswechsel an die Tschorrenfluh animierte…