Ohne Spitzeisen und Fäustel
Strahlnen ohne Spitzeisen und Fäustel
Emanuel Regli, Schattdorf
Am Samstag, 18. August 2012 war es endlich soweit: Der erste richtige Strahlnertag der Saison 2012 konnte beginnen. Bruno und mich zog es wieder einmal an den Galenstock. Bei wunderschönem Wetter liefen wir früh morgens beim Belvédère ab und freuten uns riesig, endlich mal wieder unserem liebsten Hobby zu frönen. Die aufgehende Sonne schenkte uns eine wunderbare Morgenkulisse. Sogar der stets präsente Gletscherwind war an diesem Tag gnädig und hatte eine angenehme Temperatur. Unser Ziel war der sogenannte „Felsentisch“, ca. 200 Höhenmeter unter dem Gipfel des Galenstockes. Kurt hatte dort vor einem Jahr eine prächtige Morionstufe gefunden. Da er damals ohne Fäustel und Spitzeisen unterwegs war, schickte er uns nochmals dort hin, um sicher zu stellen, ob man die Kluft nicht weiterbearbeiten kann. Bis auf drei Bergsteiger, die eindeutig nicht als Strahler identifiziert werden konnten, waren wir an diesem Tag alleine auf dem Rhonegletscher. Wir kamen gut voran, bis ich plötzlich meinen Augen kaum traute: Voller Entsetzen musste ich feststellen, dass mein rechtes Steigeisen in zwei Teile zerbrochen waren. „Sollte dies bereits das Ende des Strahlertages sein?“ Mit ein wenig Geschick und einem mitgenommenen „Strickli“ konnten wir aber das Problem beheben und den Aufstieg fortsetzen.
Nach ca. 3.5 Stunden erreichten wir die „strahligen“ Felsen des Galenstockes. Mit einem Balanceakt überwanden wir den Gletscherschrund. Nach den ersten 20 Höhenmetern mittelschwerer, wegen der Sandauflage aber heiklen Felskletterei trennten sich unsere Wege. Jeder Satz (Felsbank) wurde von uns durchforscht, jedem noch so kleinen Anzeichen die volle Aufmerksamkeit geschenkt, ob uns da nicht Mutter Natur ein paar Bergkristalle schenken wollte. Der zurückgewichene Gletscher hatte die Gegend stark in Mitleidenschaft gezogen und viel Schutt und Geröll auf den Sätzen abgelagert. So arbeiteten wir uns stetig nach oben, immer auf der Suche nach den begehrten Kristallen. Ab und zu riskierten wir einen Blick zum Felsentisch, der wohl immer noch ca. 300 Höhenmeter über uns lag. „Ach Kurt, musst du die Strahlen immer so hoch oben finden“?
Nach einer Weile kam ich an einer sehr verdächtigen Stelle vorbei. Sofort stieg mein Ehrgeiz und mit dem Pickel wurde kräftig Schutt weggegrübelt. Nach 10 Minuten erfolgloser Grabarbeit wollte ich schon weiter gehen. Bruno arbeitete derweilen ca. 20 Meter unter mir und rief, ich solle noch nicht zu weit gehen, da ich den Fäustel und das Spitzeisen bei mir trug. Also drehte ich wieder um und begutachtete die Stelle erneut. Die Stelle erinnerte mich an 2 die zwei ergiebigen Klüfte, die wir letztes Jahr im gleichen Gebiet fanden. Auch dort hat Mutter Natur gewaltige Kräfte wirken lassen, so dass sich die Kluft tektonisch aufgestellt hatte, und der begehrte Kluftinhalt ausgeleert wurde. So versuchte ich mein Glück ca. 4 Meter unter dem ersten Grabversuch. Ich arbeitete mich stetig nach oben, immer in der Hoffnung, die begehrten Kristalle zu finden. Plötzlich galt meine ganze Aufmerksamkeit einem im Schutt erscheinenden, rauchfarbenen Spitz, den ich wenig später das erste Mal in die Sonne halten konnte. Jetzt hiess es vorsichtig sein, und der Pickel wurde durch ein kleines „Häcklein“ ersetzt. Mit diesem etwas filigraneren Werkzeug konnte ich noch die letzten Schuttreste besetitigen. Da lagen sie nun vor mir. Ohne ein Spitzeisen und ein Fäustel zu benützen, konnte ich nun damit beginnen, die zerstürzte Kluft auszubeuten. Durch mein eifriges Arbeiten neugierig geworden, gesellte sich Bruno zu mir und schon ging es ähnlich zu wie letztes Jahr bei den beiden Klüften: Im Stil einer Kartoffelernte konnten wir Spitz um Spitz aus der ausgeleerten Kluft pflücken. Ab und zu staunten wir nicht schlecht, als sich noch ein paar schöne Grüppchen zu unserem Steinlager gesellten. Mit zwischenzeitlichen Jauchzern begrüssten wir besonders attraktive Spitzen und Grüppli. Es waren wirklich herrliche Stunden, die wir am Berg verbringen durften. All die Strapazen des langen Aufstieges waren wie vergessen.
Mittlerweile war es bereits Nachmittag, als wir unsere „Trägi“ zusammen hatten. Wir liessen die Steine bei der Kluft, denn unser Tagesziel lag ja beim besagten Felsentisch. Also nahmen wir noch die letzten 200 Höhenmeter auf uns und besuchten die alte Stelle von Kurt. Leider gab die Kluft nichts mehr her und wir konnten Kurt berichten, dass er auch ohne Spitzeisen und Fäustel alles aus der Kluft genommen hatte. Nach einer längeren Pause und dem obligaten Schnupf, kehrten wir wieder zu den deponierten Steinen zurück, verpackten sie sorgfältig im Rucksack und machten uns auf den Heimweg. Mit dem vollen Rucksack am Rücken, machte ich mir Gedanken über die Klüfte in diesem Gebiet. Ist es ein guter Riecher oder einfach nur Glück, wenn man erfolgreich an einer Stelle arbeiten kann, bei der man nicht einmal Spitzeisen und Fäustel braucht, und einem die Steine praktisch in den Rucksack fallen? Wenn Bruno nicht gerufen hätte ich solle warten, wäre ich wohl nie auf den Kluftinhalt gestossen. Wie gesagt, sind das wohl die schönsten Momente im Leben eines Strahlners und jeder der dieses Glück schon mal hatte, wird mich in meinen Gedanken bestätigen. Nach ca. 3 Stunden Abstieg und dem kräfteraubenden Gegenanstieg von der Gletschergrotte bis zum Laden des Belvédère, gönnten wir uns noch ein Bier und liessen den wunderschönen Tag Revue passieren. Die Aussicht auf drei Strahlerwochen und das angesagte Hochdruckwetter taten ihr Übriges zu unserer guten Stimmung. Die nächsten Tage wollten wir am Tiefengletscher verbringen, diesmal wohl aber jeder mit Fäustel und Spitzeisen in seinem Rucksack.