Parete d'Osogna "Apriti Cielo" Part 1
Parete d'Osogna "Apriti Cielo", 7b+, 36 SL (Part 1)
Bei jeder Fahrt ins Tessin, insbesondere auf der Heimreise in den Kanton Uri, habe ich jeweils sehnsüchtig in diese Wand geblickt. Die gewaltige, fast 1200 Meter hohe Mauer aus bestem Tessiner-Gneis thront hoch über dem kleinen Dorf Osogna und fasziniert wohl jeden Felsliebhaber.
Vor sieben Jahren eröffneten Fabrizio Fratagnoli und Marco Bassi, zwei starke Kletterer und Erstbegeher aus dem Tessin, eine direkte Linie mitten durch dieses imposante Gemäuer. Was im ersten Moment stark nach Artif-Kletterei roch, entpuppte sich in der Folge als frei kletterbare Linie, die mit insgesamt 36 Seillängen wohl die längste Route der Südschweiz darstellt.
Anders als am El Cap im Yosemite-Valley ist die Wand aber nicht durchgehend senkrecht und glatt, sondern weist an ein paar Stellen Absätze und Bänder auf, die mit Vegetation überwuchert sind, selbstverständlich inklusive der heiss geliebten Dornenbüsche! Das grösste Band, auf welches man nach 21 Seillängen stösst, bietet zugleich einen komfortablen Biwakplatz und zudem die Möglichkeit, um zu Fuss aus der Wand zu steigen.
In den felsigen Abschnitten ist die Wand aber kompromisslos steil, oft überhängend und die Kletterei hält sich vielfach an Risse und Verschneidungen, die auf weite Strecken selbst abgesichert werden müssen. Dies bedeutet auch, dass der obligatorisch verlangte Grad 6b eher eine Farce ist, da man mit Basteln und Technoklettern in dieser Route viel zu langsam unterwegs sein wird.
Dani und ich hatten schon lange mit der Route geliebäugelt, aber irgendwie wollte es nie so ganz klappen. Mitte April 2014 schien nun endlich ein Termin zu passen, allerdings konnten wir uns leider nur einen Tag frei machen. Wir beschlossen trotzdem einzusteigen, da die Bedingungen wahrscheinlich optimal waren. Nach Regenfällen braucht die Wand fast eine Woche, bis alle Passagen wieder abgetrocknet sind.
Ohne uns selber zu stressen, wollten wir einfach mal soweit klettern, wie die Zeit und die Kraft es uns erlaubten. Nach einem angenehmen, aber trotzdem schweisstreibenden Aufstieg von anderthalb Stunden standen wir voller Optimismus am Einstieg und machten uns für die Kletterei bereit.
Einem letzten kräftigen Schluck und dem stärkenden Biss ins Sandwich folgte nun der Kampf mit der Schwerkraft und den athletischen Rissen und Verschneidungen. Die Wechselführung sorgte schon bald für gut durchblutete Unterarme, klettert man so doch oft 70 bis 80 Meter am Stück, nur kurz unterbrochen durch den Materialtausch am Standplatz.
Bereits auf den ersten zwei Seillängen warten ein paar knifflige und kraftraubende Stellen auf potentielle Wiederholder von "Apriti Cielo". In der dritten Länge folgt dann eine Untergriff-Schuppe, welche die Oberarme aufbläst und vom Vorsteiger den geübten Umgang mit Friends verlangt.
Anhaltend steil und fordernd präsentiert sich der Weiterweg, der einer logischen Linie folgt und immer wieder mit genialen Kletterzügen überrascht. Ab und zu wird mit einem Runout auch die Psyche des Vorsteigers getestet. Zwar lässt sich mit einem geübten Auge da und dort noch eine zusätzliche Sicherung anbringen, aber oft hilft nur der beherzte Schritt vorwärts.
In der sechsten Seillänge sorgt eine geniale, selbst abzusichernde Piazschuppe für wahren Klettergenuss. Die unmittelbar folgenden Sequenz - ein kniffliger und über grosse Strecken zwingend frei zu kletternder 7a-Quergang - bringt wohl auch das Blut des Nachsteigers in Wallung.
Ein Pendelsturz an dieser Stelle wäre wohl ziemlich schmerzhaft. Ab und zu kann in dieser "Down pitch" genannten Länge noch ein Micro-Friend gesetzt werden, was aber hauptsächlich der placebo-mässigen Schonung der Nerven dient und wohl weniger als zuverlässige Zwischensicherung taxiert werden kann.
Nun folgt zur Beruhigung eine wirklich genussvolle, griffige Länge im Bereich 6b+, bevor die schwerste Stelle der Route, ein 40-Meter langer Tanz auf einer senkrechten Gneisplatte, für Stimmung sorgt.
Ich ziehe meinen Hut vor jedem, der diese arschglatte, mit 7b+ bewertete Länge sauber durchzieht. Weder Dani noch ich sahen nur den geringsten Hauch einer Chance, allerdings war es bereits schon ziemlich heiss und daher auch schon leicht schmierig. Sehr gerne würde ich mal einen dieser "Cracks" bei einer Rotpunktbegehung dieser Platte beobachten...
Nun folgten drei eher mässige, schon wieder leicht zugewachsene Längen, bei denen die Dornen teilweise der schlimmere Gegner waren, als die effektiven Schwierigkeiten im Fels. Ins Staunen versetzte uns schliesslich die 14. Länge: Ein gewaltiger, als "Shark whales" betitelter Überhang versperrte den Weg und liess Böses erahnen. Einmal in Angriff genommen zeigte sich der "Walhai" aber als friedliebendes Tier und bescherte uns geniale Kletterzüge. Kein Routenbauer in der Halle könnte schönere Passagen schrauben!
Ein steiles Grasband bracht uns an den Fuss der nächsten Steilwand. Und wieder verblüfften uns die Felsstruktur und die genialen Hangelschuppen. Die Nackenhaare leicht aufgestellt, gelang auch die "Expo pitch": Ein Rutscher beim heiklen Plattenaufsteher würde aber wohl zu einem verheerenden Pendelsturz ausarten, der schliesslich unter einem grossen Überhang enden würde. Diese Stelle ist schlicht gesagt dumm gebohrt und gefährlich, kann aber durch einen "Pseudo-Micro-Friend" etwas gemildert werden. Ob der allerdings einen Sturz gehalten hätte, musste ich glücklicherweise nicht näher ergründen...
Nach knapp 20 Seillängen Aufstieg und siebenstündiger Kletterei fädelten wir unser Doppelseil in den Abseilring und machten uns auf den langen Heimweg. Bis zum grossen Biwakband fehlten zwar nur noch wenige Meter, aber in Anbetracht der zeitraubenden Abseilerei wollten wir eine gewisse Zeitreserve einplanen.
In den zwei Stunden, die wir schliesslich zurück zum Einstieg brauchten, widmeten wir ein paar Flüche den widerspenstigen Dornen und staunten über die Steilheit der Wand.
Glücklich und zufrieden, aber auch müde und geschafft, erreichten wir um 18.45 Uhr das Dörfchen Osogna, wo wir knapp zwölf Stunden zuvor gestartet waren.
"Apriti Cielo" ist eine wirklich beeindruckende Route, die fantastische Kletterbewegungen in Hülle und Fülle bietet. Die Wand ist sehr einsam gelegen, kann aber auf relativ gutem Weg erreicht werden (Markierungen mit gelbfarbenen, reflektierenden "Katzenaugen"). Zum Schluss erleichtern ein paar morsche Fixseile den Zugang über die grasdurchsetzten Platten. Der Einstieg ist dafür sehr komfortabel gelegen und kann allenfalls zum Biwakieren genutzt werden.
Vielen Dank Dani! Es war ein grandioser Klettertag und die fantastischen Stunden im Fels werde ich nie vergessen. Für Deine glorreichen Ideen habe ich auch in Zukunft immer ein offenes Ohr....
Und die Zukunft brachte Folgendes!