Cheselenfluh
Cheselenfluh
«Überholspur», 6c, 6 SL
«Technoparty», 6c+, 7 SL
April 2022: Der milde, relativ schneearme Winter verabschiedet sich in immer höhere Lagen. Es beginnt endlich wieder die lang ersehnte Zeit für unsere persönliche «Königsdisziplin» des Kletterns, das genussvolle Begehen von Mehrseillängen-Routen. Weder beim Bouldern noch im Klettergarten empfinde ich die gleiche Genugtuung und Zufriedenheit wie in einer hohen Wand. Das Gesamterlebnis mit dem Handling an den Standplätzen, den damit verbundenen luftigen Tiefblicken und der abschliessenden Abseilfahrt über die begangene Route ist schlicht einmalig. Es hebt sich deutlich von einer Boulder-Session oder einem Tag im Klettergarten ab. In Absprache mit Beat erklären wir als Ziel für den Start in die MSL-Saison das landschaftlich sehr genussvolle Melchtal. Beim Parkplatz Stöckalp starten wir zeitgleich mit ein paar Skitourengängern, die über die letzten Schneeresten zur Melchsee-Frutt unterwegs sind, unseren eigenen Aufstieg zur Cheselenfluh. Während die Tourengänger über den noch verbliebenen Kunstschnee entlang der Abfahrtspiste gleiten, können wir wenige Meter daneben trockenen Fusses über den Wanderweg pilgern. Bald trennen sich unsere Wege. Rechts durch den Wald hoch, zuletzt über ein steiles, von der Frühlingsnässe noch schlüpfriges Wiesenbord, erreichen wir den Wandfuss im Sektor «Meteorit».
Wir kämpfen uns durch den losen Schotter linkshaltend noch etwas höher und richten uns am Einstieg der «Überholspur» mehr schlecht als recht ein. Das noch vorhandene Schneefeld verlangt beim Umstieg von den Bergschuhen in die Kletterfinken etwas Akrobatik. Das Manöver gelingt schlussendlich und hält die profillosen Patschen frei von Schmutz und Nässe. Besonders auf den ersten Metern der Startseillänge schätzt man diesen Fakt, gilt es doch auf den ausgewaschenen Steilplatten erst einmal fein hinzustehen. Weiter oben wird das Gelände deutlich steiler, dafür sorgen gute Henkel und Querschlitze für ausreichende Haltepunkte. Ein kleiner Aufschwung, der zwingend überwunden werden will, ist schliesslich der Knackpunkt dieser Länge (45m, 6b+). Etwas gemütlicher zeigt sich die 2. Länge (20m, 5a), die zu Beginn noch in schön gestuften Felsen verläuft, später dann aber über ein grosses, mit viel losem Gestein gespicktes, Band zum nächsten Stand am Fuss einer markanten Plattenwand führt. Von rechts her mündet die Route «Meteorit» in den gleichen Sicherungsplatz ein. In der 3. Seillänge (50m, 6c) befindet sich nun die «Überholspur» - entgegen der gängigen Praxis auf Schweizer Strassen – auf der rechten Fahrbahnhälfte, d.h. die «Meteorit» zieht links hoch. Unsere Linie verläuft vom Stand in sehr direktem Weg über die steile Platte. Von unten sieht das verdammt schwer aus. Vor Ort erkennt man dann die hilfreichen kleinen Leisten und Dellen, die eine freie Begehung zum Genuss machen. Kurz vor dem Stand wartet noch eine delikate Plattenstelle (ohne diese kleinen Leisten und mit markant geschrumpften Dellen), die fast zwingend überklettert werden muss. Mit fast 50 Metern ausgegebenem Seil im Schlepptau wird ausgerechnet an dieser feinen Passage die saugende Schwerkraft noch zusätzlich unterstützt.
Nach dieser ausgezeichneten Schlüssellänge darf man sich auf eine weitere, sehr lohnende Sequenz freuen. Länge vier (45 m, 6b+) beginnt zwar etwas genuss-hemmend mit einer splitterigen Rinne. Dann aber folgt fantastische, steile Wandkletterei, die immer leicht linkshaltend, durch perfekten Kalk an eine Kante leitet. Entlang dieser Kante wird beim Höhersteigen nochmals Aufmerksamkeit gefordert, dann aber legt sich die Wand etwas zurück und erleichtert das Anklettern der nächsten Sicherungsoase. Hier endet offiziell die «Überholspur» und man reiht sich wieder in die Normalspur von «Meteorit» ein, der man in zwei weiteren Längen (35 m, 5b und 25 m, 5c+) folgen darf. Diese Fortsetzung der rassigen Fahrt lohnt sich auf jeden Fall, obwohl der erste Streckenabschnitt etwas alpinen Charakter zeigt. Dafür ist das Finale kurz vor der Ziellinie wieder mit bestem «Strassenbelag» und herrlichen Kalk-Strukturen gesegnet.
Im Ziel tragen wir uns in das Fahrtenbuch ein und seilen rasch entlang der absolvierten «Rennstrecke» zurück zum Startgelände. Da wir allein auf der Piste sind, räumen wir viel loses Geröll ab den Bändern, welches polternd in der Schutthalde am Wandfuss einschlägt. Nach kurzer Rast steigen wir wenige Meter über den Schnee hoch zum Beginn der «Technoparty». Hier gelingt der Umstieg auf die Kletterpatschen etwas komfortabler, dennoch braucht es ein paar Verrenkungen um das Gangwerk trocken zu halten.
Die erste Seillänge (40m, 5c+) ist ein genussvolles Hochsteigen an zahlreichen Querbändern. Die gute Absicherung und der freundlich gestufte Fels sorgen für Freude. Mit einem kurzen Quergang entert man in der zweiten Länge (35 m, 5c+) einen wunderbaren Aufschwung, der etwas Athletik erheischt. Leider kann dieser Modus nicht bis zum nächsten Stand aufrechterhalten werden. Dazwischen liegt wieder eines dieser schuttbewehrten Bänder, über das man rechtsquerend den nächsten, weniger lohnenden Aufschwung gewinnt. Der Stand wird schliesslich auf einem weiteren Band unter einer markanten Verschneidung bezogen.
Diese Piaz-Verschneidung bildet den Auftakt in die dritte Seillänge (40 m, 6c) und lässt sich wider Erwarten gut meistern. Die Schlüsselstelle folgt erst weiter oben beim kleinen Überhang, von dem man gar fein in einem Links-Rechts-Bogen über eine griffarme Steilplatte den eng steckenden Bohrhaken folgt. Am Stand oben kann ich dann gemütlich zuschauen, wie Beat einen souveränen Plattentanz hinlegt und gleich über das splitterige Querband nach rechts entschwindet, wo er mich nachfolgen lässt. Diese Übergangslänge (15 m, Gehgelände) macht Sinn, da man nun wieder direkt durch etwas unangenehm runde Risse zum nächsten Stand hochklettern darf (35 m, 6a+). In Länge fünf (20 m, 6b) gewinnt man zunächst nur marginal Höhe, da man weit nach links queren muss. Die Stelle ist eher unangenehm als schwierig. Unter einem Dachvorsprung krallt man sich an feinen Rissspuren fest und muss dabei ständig den Kopf einziehen, damit nicht der Helm an der Dachunterkante zerkratzt wird. Mit einem grossen Spreizschritt wird man schliesslich der beklemmenden Situation entfliehen können. Der Rest bis zum Stand ist wieder beste Wandkletterei im Cheselen-Stil!
Was wir schon weiter unten befürchtet haben, wird nun zur bitteren Realität. Ein feiner Sprühregen und der damit zusammenhängende, fette Wasserstreifen ergiessen sich über die nächste Seillänge. So früh im Jahr ersäuft der obere Routenabschnitt gerne im Schmelzwasser. Damit ist unsere «Technoparty» leider beendet, bevor es zum spannenden Finale kommen kann. Wir fädeln die Seile in den Abseilring und schweben über die routenunabhängige Abseilpiste zum Wandfuss zurück. Eine gute Stunde später geniessen wir im Dorf Kerns ein durststillendes Weizenbier und dazu passend ein paar wohlmundende, hartgesottene Ostereier. Vielen Dank an Beat für den gelungenen Einstieg in die MSL-Saison und die lustigen Stunden am Fels.