Impressum Sitemap

Titlis Nordkante "Via Ruedi"

Titlis Nordkante "Via Ruedi", 6b, 18 SL
Um 4 Uhr in der Früh piepst mich mein Handy aus dem wohligen Schlaf. So zeitig bin ich schon lange nicht mehr für eine Klettertour aus den Federn gekrochen. Für die geplante Tour in der Titlis Nordwand wollen wir - mein Bruder Kurt und Beat sind mit von der Partie - genügend Zeitreserve einplanen. Die Fahrt nach Engelberg und der Zustieg zur Wand verschlingen alleine schon mehr als zwei Stunden. Mit perfektem Timing stehen wir um 7:15 Uhr am Einstieg und werden wenige Minuten später von den ersten Sonnenstrahlen gestreichelt. Hinter uns liegt der interessante Aufstieg von der Talstation der Fürenalpbahn via "Leiterli"-Weg zur Alp Bödmen, weiter zum Hohfadwald und dann über Steilgras und plattige Schrofen zum gut auffindbaren Einstieg (Steinmann).

Die Einstiegslänge ist im unteren Teil streckenweise nass, obwohl es drei Tagen schön und warm blieb. Das Wasser drückt aus dem Berg und tröpfelt aus Rissen und Graspolstern. Vorsichtig schleiche ich über die heiklen Passagen und ergreife dankbar die ersten trockenen Knobs, die wie Warzen aus dem Fels ragen. Diese Silexeinschlüsse begleiten uns auf dem ersten Wandabschnitt und charakterisieren teils ganze Seillängen. Bis zum 5. Standplatz kämpfen wir immer wieder mit nassen Partien, dann folgen zwei herrlich zu kletternde Teilabschnitte, die nicht nur angenehm trocken sind, sondern auch faszinierende Strukturen aufweisen.

Besonders die 7. Seillänge, die in anderen Berichten auch schon als "Hühnerleiter" bezeichnet wurde, glänzt mit den schwarzen Knubbeln. Die Absicherung ist sehr sportlich und verlangt ein absolut sicheres Vorsteigen. Potentielle 20-Meter-Stürze in diesem Gelände würden aber vermutlich ganz böse enden. Ob es vernünftig ist, diese Route in einem Plaisirführer zu propagieren, sei dahingestellt. Wer in diesem Schwierigkeitsgrad souverän und mit kühlem Blut unterwegs ist, wird wohl keine Probleme haben. Selber fühle ich mich während der ganzen Tour sehr wohl im Vorstieg. Ein blöder Griffausbruch oder ein Rutscher auf einer nassen Passage ist jedoch schnell passiert. "Irgendwann wird es in dieser Route Route einen schweren Unfall geben", bemerke ich zu meinen zwei Kollegen, die sofort meinem Votum beipflichten.

Nach einer gemütlichen Übergangslänge (8. SL) stehen wir unter einem steilen Aufschwung, der als Schlüsselstelle der ganzen Tour gilt. Immer rechts haltend, leiten die rot lackierten Bohrhaken durch die Schwachstelle dieser Wand. An der rechten Begrenzung einer grossflächig nassen Felspartie erwartet mich ein feiner Aufsteher. Die richtige Höhe für die anschliessende Querung zu erwischen, ist dann das Erfolgsgeheimnis für eine makellose Begehung. Wir klettern nun im Schatten der Nordwand, geniessen aber nach wie vor T-Shirt-Bedingungen. Die letzte Sequenz vor dem grasigen Gehgelände ist zu Beginn noch ordentlich steil, aber zum Glück extrem griffig, was zu einer moderaten Bewertung dieser Stelle mit 5c+ führt.

Zum Schluss dieser schönen Länge ist nochmals ein weites Stück ohne fixe Absicherung zu meistern, was mich auf den letzten, wiederum nassen Metern unter dem Standplatz, extrem vorsichtig agieren lässt. Nun gilt es, über gut gangbares Gelände ca. 100 m stark nach rechts zu halten, um den Einstieg in die obere Wandpartie zu finden. Schon arg verblasste, rote Farbmarkierungen weisen den Weg durch Schutt und Graspolster, der bei einer vergammelten Sanduhrschlinge wieder in Kletterei übergeht. Die nächsten zwei Abschnitte sind wenig berrauschend, dann aber folgt eine markante Rissverschneidung, wo sich die mitgebrachten Camalots wunderbar platzieren lassen. Ab und zu verrät eine Sanduhrschlinge oder ein roter Bolt, dass ich auf der richtigen Fährte bin.

Nun stellt sich uns ein steiler Turm in den Weg. "Das sieht interessant aus", denke ich zu mir. Zu Beginn noch fast als Gratkletterei zu definieren, wird es zunehmend senkrecht, bleibt aber uverschämt griffig. Meiner Meinung nach ist dies die beste Länge der gesamten Tour. Achtung: Die rote Standkette im ober Drittel ist ein Abseilstand, den wir allerdings auch beim Rückweg unberührt liessen. Der richtige Standplatz ist auf der Turmspitze, wo sich auch das Wandbuch befindet. Die noch fehlenden vier Schlusslängen verbessern in der Folge das Score für die Schönheitsbewertung der Route. In plattigem, aber perfekt strukturiertem Fels geht es mit teils weiten Hakenabständen mehr oder weniger direkt hoch. Nach gut 5 Stunden anhaltender Kletterei stehen wir zu dritt am 18. Standplatz. Den Weiterweg zum Titlis sparen wir uns. Schrofen, loses Geröll, Schutt und Schnee können wir in der ansteheneden Strahlnersasion wieder zur Genüge "geniessen".

Fast ohne Komplikationen (ein beim Seilabziehen gelöster, faustgrosser Stein trifft Kurt ohne Verletzungsfolgen am Unterarm) gelangen wir in 16 langen Abseilmanövern wieder an den Wandfuss. Die kurz darauf anstehende, währschafte Verpflegung ist wohlverdient. Jetzt steht uns nur noch der heikle Abstieg über die glatten Zustiegsplatten und das steile Wiesenbord bevor. Konzentriert und mit entsprechender Vorsicht wird auch dieses Hindernis erfolgreich bewältigt und wenig später in den Wanderweg eingefädelt. Wir steigen nun über die Alp Hofad und den Sulzwald hinab zum Klettergarten Schlänggen, wo trotz 25°C viel Betrieb herrscht. Wie schön war es doch oben in der einsamen Nordwand des Titlis. Herzlichen Dank meinen beiden Freunden Beat und Kurt für dieses tolle Klettererlebnis und den intensiven Tag am Fels.

Die "Via Ruedi" führt in 18 (meist gestreckten) Seillängen über den stark gegliederten Nordgrat. Die Kletterei bietet ein paar faszinierende Passagen an schwarzen Silexeinschlüssen oder in gut strukturierten Steilzonen. Insgesamt werden aber in erster Linie die Füsse durch die geneigte Reibungskletterei beansprucht. Der Fels ist meistens fest und erstaunlich griffig. Mittelmässig sind die Längen 4 (Wasserrinne), 5 (Ausstieg über Gras und Schuttbänder), 8 (grasige Übergangslänge), 11 und 12 (geneigte Platten). Sehr schön zu klettern sind die Teilstücke 1, 6 und 7 (Knubbel-Parade), 9 und 10 (Steilaufschwung mit SSL), 14 (stotziger Turm) sowie die letzten vier Längen mit griffiger Plattenkletterei. Die Erstbegeher fanden den optimalsten Weg durch das Labyrinth von Rinnen, Bändern, Türmchen und Rippen. Die Linienführung ist logisch und mit Hilfe der rot lackierten Bohrhaken meist problemlos zu finden. Ein paar gefädelte Sanduhrschlingen dienen mehr zur Orientierung. Ob die winzig dimensionierten Gesteinsbrücken im Zentrum dieser Schlingen eine Sturzbelastung aushalten, wage ich zu bezweifeln.
Die Hakenabstände in den einfacheren Passagen messen oft bis zu 15 m, in den steileren oder etwas schwierigeren Zonen stecken die Bolts in benutzerfreundlichen Abständen. Camalots der Grösse 0.5 - 2 lassen sich einzig in der 13 Länge vernünftig legen. Das Abseilen benötigt Zeit, sollte aber bei etwas Umsicht ohne Probleme verlaufen. Ein Lösen von kleineren Steinen beim Seilabziehen ist ab und zu unvermeidlich, tangiert aber meistens nicht den betreffenden unteren Standplatz. Sollte aber weiter unten noch eine oder zwei Seilschaften am Werk sein, kann es heikel werden. Der Zu- und Abstieg über die plattigen Schrofen am Wandfuss ist ebenfalls nicht zu unterschätzen.
Insgesamt, unter Einbezug der ganzen Szenerie, ist die "Via Ruedi" eine lohnende Klettertour mit hohem Erlebniswert. Den Ausstieg zum Titlis hoch kann ich nicht beurteilen, er sollte aber gemäss Berichten im Internet gut machbar sein.
Herzlichen Dank dem Erstbegehrteam Steck, Waser und Winkelmann für die grosse Arbeit und das Engagement.
Ein Topo (Routenfoto) ist hier zu finden: https://www.engelbergmountainguide.ch/sommer/klettern/mittlere-klettertouren/titlis-nordkante-via-ruedi/
Ein genaues Topo ist auch im Plaisier Ost von 2021 zu finden.