Zur falschen Zeit am falschen Ort
Kein herbstlicher Waldnebel, sondern penetrant nach Schwefel riechender Felsstaub wenige Sekunden nach dem Bergsturz aus der "Sandbalmchälä".
Zur falschen Zeit am falschen Ort
In unserem Leben gibt es manchmal Situationen, in denen sämtliche Umstände ideal zueinander passen. Ob ein Schritt in der beruflichen Karriere, das erste Treffen mit dem zukünftigen Lebenspartner oder rein zufällig entstandene, wunderbare Freundschaften: stets stimmten Raum- und Zeitachse überein. Beim Strahlen ist es nicht anders. Oft kommt man gerade zur richtigen Zeit an einer soeben ausgeaperten Kluft vorbei. Mehrere persönlich erlebte, aber auch von Freunden gehörte Strahlergeschichten liefern Zeugnis, wie knapp es dabei manchmal gehen kann. Der unter Strahlern beliebte Ausdruck, dass man nur die Steine findet, die einem auch „gehören“ kommt daher nicht von ungefähr und stützt die These: Zur richtigen Zeit am richtigen Ort!
Drei sehr eindrückliche Erlebnisse aus den vergangenen zwei Sommern haben in mir das Bewusstsein geweckt, dass auch das Gegenteil eintreffen kann und man zur falschen Zeit am falschen Ort sein kann. Besonders nachdenklich stimmte mich, dass oft kleine Dinge den Zeitverlauf unwesentlich beeinflussten und dadurch ein unglückliches Aufeinandertreffen verschiedener Umstände verhinderten.
Während dem Felssturz befanden sich auch Kletterer an der Sandbalmfluh. Sie genossen von oben den sicheren Blick auf das Schauspiel im Wald eingangs Voralptal. Bild: Marcel Dettling
10 Minuten Verspätung
Am zweiten August 2011 sollte ich um 6.00 Uhr meinen Bruder für eine gemeinsame Strahlertour abholen. Ich verspätete mich um 10 Minuten, weil die Kantonsstrasse zwischen Altdorf und Erstfeld wegen Belagsarbeiten kurzzeitig gesperrt war. Frohgelaunt wanderten wir trotz dieser Unpünktlichkeit vom Gütsch zur Fellilücke und zogen anschliessend über steile Grasflanken gegen den Fedenstock hinaus. Gerade als wir in die Schuttflanke des Fedenälpeli hineinqueren wollten, stürzte vom Wyssen ein gewaltiger Felssturz hinab und bombardierte die gesamte Flanke auf einer Breite von 300 Metern. Zehn Minuten früher wären wir mitten drin gewesen – ohne jegliche Deckung!
Nimm nu äs Schwarzes...
Das zweite, noch viel eindrücklichere Erlebnis ereignete sich auf einer Wanderung im Voralptal. Zu dritt besuchten wir unsere Nachfolger auf der Voralphütte und kehrten anschliessend noch bei Beni Gisler, dem Älpler in der Horefelli ein. Nach mehreren Kaffeerunden drängten wir zum Aufbruch, aber Beni meinte nur: „Jä was wottsch jetzt scho gah, nimm nu äs Schwarzes! Wäg äs paar Minutä...“ Wir aber blieben standhaft und verabschiedeten uns von dem freundlichen Älpler. Eine halbe Stunde später – wir befanden uns in den Kehren unterhalb vom Sand und erblickten bereits den Parkplatz an der Göscheneralpstrasse – erschütterte ein gewaltiger Knall das ganze Tal. Das darauf folgende Dröhnen interpretierten wir zuerst als militärischen Fluglärm, aber nur so lange, bis wir die riesige Staubwolke gewahrten, die sich aus der Sandbalmchälä auf uns zuwälzte. Schneeweisse Granitblöcke, so gross wie Wohnzimmer, flogen hoch durch die Lüfte. Binnen weniger Sekunden waren wir in eine dichte Staubwolke eingehüllt und es roch penetrant nach Schwefel. Ein wahrhaft infernalisches Schauspiel!
Mitten im Wald blieben wir vom riesigen Felssturz verschont und konnten nach einer kurzen Pause, nun aber mit deutlich wackligeren Beinen, den Weiterweg fortsetzen. Wären wir einige Minuten oder den Zeitbedarf für ein schwarzes Kaffee später unterwegs gewesen, hätte uns der Felssturz direkt bei der Gebietslokalität „Sand“ erwischt, wo mehre kopfgrosse Steine während dem Felsabbruch den Wanderweg bestrichen.
Steinböcke und Eislawinen
Vollendet wurde meine persönliche Trilogie dieser Erlebnisse im Sommer 2012. Mein Neffe Emanuel und ich hatten in unserem Strahlerbiwak, der „Villa Erotica“, eine geruhsame Nacht verbracht. Nach einem nahrhaften Frühstück an der wärmenden Sonne, querten wir wie gewohnt über ein paar Felsbänder die Südflanke des Gletschhorns und wollten so auf den Tiefengletscher gelangen. Als wir um eine Granitkante kletterten, standen vor uns ein paar stattliche Steinböcke, die absolut keine Scheu zeigten. Dankbar für dieses Motiv, zückte ich den Fotoapparat und verbrachte ein paar Minuten inmitten der imposanten Tiere. Nun aber hiess es aufbrechen, da wir noch einen weiten Weg vor uns wähnten. Schon bald standen wir auf dem Gletscher und steuerten auf einen markanten Felsbuckel zu, als ein gewaltiges Rauschen und Donnern unser Vorwärtskommen stoppte. Eine mächtige Lawine, ausgehend von einem zusammenbrechenden Eisabbruch, bestrich den angepeilten Fels und hinterliess eine Spur der Zerstörung. Die den Steinböcken gewidmete Zeit rettete uns wohl das Leben...