Saisonrückblick 2017
Schnee zur falschen Zeit
Ein Rückblick auf die Strahlnersaison 2017
Bruno Müller
Das Jahr 2017 begann, wie das alte Jahr geendet hatte: mit andauernder Trockenheit und stabilem Hochdruckwetter. In der ersten Januarwoche war es sogar möglich, auf dem Golzerensee im Maderanertal mit Schlittschuhen herum zu kurven. Das in einer Mulde auf 1409 Meter gelegene, idyllische Gewässer bildete perfektes Schwarzeis und wurde zu einem wahren Publikumsmagnet. Rundherum aber präsentierte sich das Ufer wie im Spätherbst und verlockte zum Grillieren auf den braun verfärbten Wiesen – ein fast surreales Bild!
Der prophezeite grosse Schnee im Nachwinter blieb ebenso aus. Einem vorzeitigen Frühling stand also nichts im Weg, wenn – wie so oft – dieser nicht total verregnet worden wäre. In der Höhe wuchs die Schneedecke daher immer noch, im Unterland erwachte die Natur aber rasch und blühte aus allen Knospen. Ein verhängnisvoller Frühstart, machte doch der nachfolgend herrschende Frost im April viele Triebe kaputt und bescherte der Landwirtschaft immense Folgeschäden.
In mittleren Regionen konnte aufgrund dieser Wetterkonstellation schon sehr früh mit Strahlnen begonnen werden. Dass diese tiefer gelegenen Gebiete auch in unserer Zeit noch nicht komplett abgesucht sind, bewies Christoph Betschart. In einem Seitenarm des Urserntals konnte er grosse Quarzspitzen bergen und nach Hause nehmen. Die grösste Spitze wies dabei eine Länge von gegen 50 cm auf. In den alpinen, höher domizilierten Zonen durften wir Strahlner dank einem sehr warmen Juni ebenfalls etwas früher als gewohnt das Werkzeug ansetzen. Der Frühsommer war allerdings geprägt von hoher Gewitterwahrscheinlichkeit. Manch einer wurde während eines Strahlgangs oder einer Bergtour bereits am frühen Nachmittag kräftig geduscht. Mit etwas Vorsicht und ständiger Beobachtung der Wetterentwicklung konnte man aber fast täglich ausrücken und unserer liebsten Tätigkeit nachgehen.
Die Gletscher zeigten bereits ungewohnt früh erste apere Stellen. So war es vielen Strahlnerequipen möglich, an ihren Baustellen vom Vorjahr mit der Weiterarbeit zu beginnen. Fredi Desax und Sepp Imholz, Franz von Arx und Elio Müller, aber auch die Brüder Hansruedi und Karl Tresch erweckten ihre Klüfte aus dem Winterschlaf und richteten teils aufwändige Installationen ein. Besonders letztere investierten viel Zeit und Geld für eine Plattform in einer steilen Wand der Göscheneralp, die ihnen ein Vorantreiben der Fundstelle ermöglichte. Auch am Gletschhorn waren Fixseile erkennbar. Sie dienten dem Team von Tomas Steinbrugger und Christoph Betschart als Aufstiegshilfe zu einem neu entdeckten Kluftsystem. Meinerseits hing ich ebenfalls fast den ganzen Juli herum und bearbeitete mit Georg Walker zusammen eine Kluft, die nur mit Seilhilfe vernünftig und sicher zu erreichen war. Die Arbeit am hängenden Seil darf aber nicht unterschätzt werden. Bei der kleinsten Unachtsamkeit oder falscher Handhabung der Abseilgeräte droht ein Desaster, wie das folgende Zitat aus einem Erlebnisbericht zeigt:
„Im letzten Sommer entdeckten Georg und ich in einer Felswand eine vielversprechende Kristallkluft, die uns den ganzen Winter immer wieder in Gedanken beschäftigte. Vor einer Woche installierten wir nun ein Fixseil und versuchten in der Folge, den Zugang zur engen Höhle zu erweitern. Heute will ich nun dieses Werk weiterführen. So verabschiede ich mich vom Hüttenwartspaar und erklimme gut gelaunt die ersten, unschwierigen Felsen auf dem Weg zu unserer Kluft. Am Fuss der Wand geniesse ich für einen kurzen Moment die fantastische Umgebung, betrachte mit dem Feldstecher die gegenüberliegenden Wände und gönne mir ein kräftigendes „Znini“. Rasch ist der Klettergurt montiert. Nach kurzer Kontrolle des Materials hangle ich mich dem Fixseil entlang die Wand hoch und erreiche mit pochendem Herz unsere Baustelle. Alles sieht so aus, wie wir es letzte Woche verlassen haben. Ich deponiere den Rucksack und sichere ihn mit einem kurzen Seilstück. Meinem Bauchgefühl folgend, steige ich weiter dem Seil entlang zur oben liegenden Verankerung. Wenige Meter unter dem Bohrhaken stockt mir der Atem: Das Seil ist zerfetzt und besteht nur noch aus wenigen Kernfasern! Die ständige Belastung über eine Felskante hat den Strang zur Hälfte durchgescheuert. Kalt läuft es mir über den Rücken, als ich die möglichen Konsequenzen realisiere. Rasch repariere ich die schadhafte Stelle und ändere den Seilverlauf.
Durch die fortschreitende Ausaperung wurde auch die objektive Gefahr von Steinschlag drastisch verschärft. Besonders jene fündigen Zonen unterhalb von Gletschern verlangten dabei erhöhte Aufmerksamkeit und wurden immer wieder von herunter rollenden Steinen oder Eisschlag bestrichen. Das gurgelnde Schmelzwasser übertönt oft das Gepolter der herabfallenden Steine, besonders solange sie noch über die steilen Gletscherhänge kullern. Sobald diese Steine auf die darunter liegenden, geschliffen Felsplatten gelangen, nehmen sie brutal schnell Geschwindigkeit auf und werden zu völlig unkontrollierten Geschossen. Ein aufmerksamer Wachposten kann dabei helfen, aber sind wir doch ehrlich, sehr oft steht uns auch das Glück bei oder der Schutzengel muss wieder einmal Überstunden leisten.
Bezüglich Ausaperung konnten durchaus Parallelen mit dem Jahrhundertsommer 2003 gezogen werden. Als Beispiel sei hier auch die Normalroute zum Oberalpstock erwähnt, die infolge des völlig blanken Gletschers kurz unter dem Gipfelaufschwung im Herbst für den Normalbergsteiger fast nicht mehr begehbar war. Was die Bergsteiger betrübte, freute ein Stück weit die Strahlner. Rund um den Brunnifirn kam viel Neuland, sprich fündige Felspartien, zum Vorschein. Entsprechend gross war aber auch der Aufmarsch an Strahlnern in diesem Gebiet, wie mir ein Insider etwas betrübt berichtete. Auch am Tiefengletscher herrschte an schönen Tagen reges Treiben, besonders im August hatte man oft das Gefühl, es finde eine vorgezogene Fronleichnamsprozession über die stark schwindenden Gletschermassen statt. Wie stark dieses nur scheinbar ewige Eis leiden musste, erkannte an auf erschreckende Weise am Gletscherfuss. Der erste Steilaufschwung unter dem Gletschhorn, über den man zu Beginn des Sommers noch aufsteigen konnte, war im Herbst auf einer Länge von gut 150 Metern komplett dahingerafft. Wer nun diesen Weg zum Galenstock wählt, muss nun mühsam durch feines Geröll und Sand seinen Weg suchen.
Trotz der weichenden Eisfelder kamen praktisch keine neuen Klüfte zum Vorschein. Es wurde daher auch viel an älteren Stellen gearbeitet. Immer wieder war auch das leise Brummen von Bohrmaschinen zu hören, durften im vergangenes Sommer doch vier Teams in der Region mit einer Bohrbewilligung der Korporation Ursern ihre Kluft bergmännisch abbauen. Dass es bei so viel Betriebsamkeit ab und zu auch zu zwischenmenschlichen Disputen und Reibereien kommt, liegt wohl in der Natur der Sache. Für Gesprächsstoff abends im Biwak war auf jeden Fall immer gesorgt. Manchmal erinnerte die Szenerie an das Zusammentreffen alter Waschweiber am Dorfbach. Nicht ganz gelöst scheint mir die Problematik der Kluftbelegung. Die auf maximal zwei Klüfte begrenzte Berechtigung pro Strahlner wird vereinzelt arg strapaziert und auch der vorgeschriebene Abstand zu einer anderen Kluft sorgt immer wieder für Zündstoff. Was aber jener Strahler sich dabei gedacht hat, der eine fremde Stelle, die mit Monogramm und der Jahrzahl 2016 belegt war, neu mit 2018 beschrifte, bleibt mir wohl immer verborgen. Und dies geschah notabene im September 2017 und erfolgte erst noch unter Verwendung eines falschen Monogramms, das völlig unverfroren 10 cm über dem bestehenden Schriftzug aufgepinselt wurde.
Fehlte zu Jahresbeginn, wie in meiner Einleitung erwähnt, überall der Schnee, wurden wir leider im September mehr als genügend mit dem unliebsamen Weiss eingedeckt. Länger anhaltende Niederschläge, verteilt über den ganzen September, sorgten für ein rasches und abruptes Endes der alpinen Strahlnersaison. Zwar konnte man während einer Hochdruckphase im Oktober nochmals ein paar Angriffe starten, wer aber zuerst noch eine frische Stelle suchen musste, war fast chancenlos. Die Bearbeitung einer bestehenden Kluft war in dieser Höhenlage noch die einzige Alternative, nebst der Suche am Seil in steilen, schneefreien Wänden. Das Zeitfenster für uns Strahlner war im vergangenen Jahr leider sehr eng gesteckt. Hoffen wir, dass uns im 2018 mehr Zeit bleibt für die Suche nach den verborgenen Schätzen in unseren Bergen. Ich wünsche allen Strahlnern dabei viel Erfolg und das nötige Quantum Glück!