Projekt Neutour
Projekt Neutour
An diesem Samstag waren all meine Kletterkolleginnen und -kollegen irgendwie besetzt oder andersweitig beschäftigt. Ich wollte den sich abzeichnenden schönen Sommertag nicht ungenutzt verstreichen lassen und packte ein schon lange projektiertes Vorhaben endlich an. Schon beim Befüllen des Rucksacks mit all dem nötigen Plunder machte mir sein Gewicht etwas Sorgen. Einmal geschultert, schien mir der Sack aber noch erträglich zu sein. Gemütlich setzte ich Schritt für Schritt in den Weg und näherte mich der angepeilten Wand, die ich bei einer Rast nochmals mit dem Fernglas eingehend studierte. Das steile Schneefeld zum Wandfuss machte mir zwar Eindruck, dank dem mitgeführten Pickel war diese Stelle aber gut zu meistern. Mehr Probleme bereitete der Übergang in die Felsen. Eine fragile Schneebrücke erlaubte schliesslich den Zugang auf ein abschüssiges Band. Rasch bohrte ich einen Haken in den harten Granit und sicherte mich und das ganze Material an dieser Rettungsinsel. Später im Sommer würde dieser Zugang sicher einfacher werden, da der noch vom Schnee bedeckte Fels gut gestuft ist und ein grosses Band vorhanden ist. Das wusste ich vom genauen Studium der Wand in den Vorjahren.
Bis ich aber endlich startbereit war und alle Vorkehrungen für den gesicherten Vorstieg mit dem modifizierten Grigri getroffen hatte, vergingen noch etwas Zeit und ein paar mühsame Verrenkungen. Endlich aber konnte ich Hand an den hier noch glattgeschliffenen Fels anlegen. Die anvisierte Verschneidung war leider nass und vollgestopft mit Vegetation. Links davon fand sich aber eine machbare Linie an sloperigen Leisten. Die zur Sicherung nötigen Bohrhaken konnte ich alle aus der Kletterstellung bohren. Mit einem heiklen Rechtsquergang und einem mutigen Aufsteher gelangte ich auf ein perfektes Band. Welch ein Glück! Hier konnte ich den ersten Standplatz einrichten und all mein Material trocken lagern. Zuerst aber musste ich die gekletterten Meter wieder abseilen, das Material ausräumen und mit schwerem Rucksack an den Steigklemmen wieder hochsteigen.
Der Weiterweg offerierte zwei Optionen: Direkt hoch lockte ein schöne Schuppe, rechts davon eine noch verlockendere, "clean" machbare Verschneidung. Ich entschied mich aber intuitiv für den direkten Weg und bekam weiter oben die Bestätigung für diese Wahl. Die cleane Verschneidung hätte mich in eine grasige und lausig zu kletternde Zone geführt. Direkt hoch aber folgten nach der Schuppe ein paar schöne Plattenpassagen in bestem Fels. Eine danach ansetzende Verschneidung und eine griffige Kante brachten mich schliesslich auf ein weiteres bequemes Band - ein idealer Ort für den zweiten Standplatz.
Abseilen und mit dem Material wieder hochjümaren waren nun angesagt. Beim Rucksack unten verpflegte ich mich erst einmal und benetzte den trockenen Rachen gierig mit Flüssigkeit. Wieder beim höchsten erreichten Punkt angelangt, standen erneut zwei Varianten zur Debatte. Ich diskutierte nicht lange - mit wem auch? - und wählte diesmal die Option *Rechts". Die direkt ansetzende, linke Verschneidung war stumpf, moosig und wenig einladend. Ein gut machbarer, kurzer Rechtsquergang führte mich zu einer hübschen und sauberen Schuppe, die mir ein rasches Vorwärtskommen gewährte. Die nun ansetzende Verschneidung verlangte wieder vollen Einsatz, besonders der Austieg auf die begrenzende Platte liess meinen Puls hochgehen. Der rettende Bohrhaken war zum Glück gesetzt, bevor meine Wadenmuskeln krampften. Ein weiterer, heikler Schritt rechts hoch brachte mich in die nächste Bohrpostion. Mit diesem "Silberling" waren meine Materialressourcen nun aber erschöpft und die gespeicherten Ampére-Stunden des Akkus schienen ebenfalls verpufft zu sein. Zeit für den Rückzug!
Da ich aus Gewichtsgründen nur ein 50-Meter-Einfachseil dabei hatte, seilte ich unter Zurücklassung von alten Karabinern in fünf Sequenzen über die Wand ab und gelangte so auch problemlos über die Schneelippe auf das darunterliegende Schneefeld. Hundert Meter weiter unten lockte ein grosser, flacher und trockener Stein. So zog ich das Seil hinter mir her, rutschte über das Schneefeld runter und konnte bei der Felsplatte das ganze Material angenehm aussortieren und den durchnässten Strick trocknen lassen. Ich genoss die fantastische, einsame Umgebung und studierte mit dem Fernglas den möglichen Weiterweg in der Wand hoch über meinem Standort. Es wird auf jeden Fall spannend bleiben...