Saisonrückblick 2022
Trocken und warm!
Ein Rückblick auf die vergangene Strahlnersaison 2022
Bruno Müller
Mein fast schon traditioneller Rückblick auf die Strahlnersaison erscheint normalerweise in der 1. Ausgabe unserer Vereinsschrift. Bei Redaktionsschluss für das Heft 1 war ich jedoch in der glücklichen Lage, über eine stattliche Anzahl eingesandter Artikel zu verfügen, denen ich gerne den Vorzug bei der Veröffentlichung gab. In der Hoffnung, dass der vorliegende Artikel auch mit dreimonatiger Verspätung trotzdem noch gerne gelesen wird, lasse ich die letztjährige Saison nochmals aus meiner Sicht Revue passieren. Die ersten ergiebigen Niederschläge mit Schnee bis in tiefere Lagen setzten im Winter 2021/22 relativ früh ein. Im späteren Verlauf – besonders gegen den Frühling hin - geizte aber «Frau Holle» durchs Band mit weiteren Schneefällen. Ganz so extrem wie im aktuellen Winter akzentuierte sich die Schneearmut zwar nicht, aber die Gesamt-Niederschlagsmenge für das Winterhalbjahr 2021/22 lag doch unter dem langjährigen Durchschnitt. In der ganzen Schweiz notierten die Temperaturen deutlich über der Norm der Jahre 1961 bis 1990. Allerdings ist die Spannweite sehr gross. In Sitten war es nur 0,6 Grad wärmer als im langjährigen Schnitt. Sonst war es an vielen Orten rund 2 Grad zu warm, am Nordrand der Schweiz und in weiten Teilen des Tessins rund 2,5 Grad und in Locarno sogar 2,8 Grad. Dort war es der zweitwärmste Winter nach 2020, in Lugano wurde der drittwärmste Winter verzeichnet. Das Einschneien erfolgte diesen Winter schweizweit Anfang November für Höhenlagen oberhalb von rund 2200 m, in Graubünden sogar oberhalb von rund 1500 m.
Am Alpennordhang bildete sich die winterliche Schneedecke oberhalb 800 m verbreitet am 26. und 27. November. Viele weitere Schneefälle in den folgenden Tagen und Wochen trugen dazu bei, dass einige wenige Westschweizer Stationen auf rund 1300 m kurz vor Monatsmitte rekordhohe Schneehöhen für dieses Datum verzeichneten. Eine Woche vor Weihnachten waren die Schneehöhen darum zwischen 500 und 1500 m am Alpennordhang rund zwei- bis viermal so hoch wie normal, oberhalb von 2000 m noch rund eineinhalbmal so hoch. Die Schneedecke blieb oberhalb von 1000 m am Alpennordhang bis Mitte März erhalten. Nach einer aussergewöhnlich langen Phase von rund 30 Tagen ohne Neuschnee wurden Ende März oberhalb von 1500 m am Alpennordhang und im Engadin verbreitet noch 30 bis 60 % der üblichen Schneehöhe registriert. Die mehrheitlich trockene Witterung setzte sich im April und Mai fort. Der Schmelzprozess setzte nun auch in höheren Lagen ein und brachte die noch vorhandenen Schneefelder rasch zum Verschwinden. Für all jene Strahlner, die in Lagen ab 2500 Meter ihre Kristalle suchen, bedeute dies einen um rund 3 Wochen vorgezogenen Start.
Bei seinem ersten Besuch im Biwak notierte Sepp Jauch für den 15. Juni 2022 folgenden Eintrag ins Biwakbuch: «Kein Schnee im und rund ums Biwak! Letztes Jahr reichte die Schneedecke noch bis zur Dachrinne hoch.» Angesichts der Höhenlage – wir sprechen von knapp 3000 Metern über Meer - eine sehr eindrückliche Tatsache. Niederschläge blieben auch im Juni und Juli leider Mangelware, was der Altschneedecke extrem zusetzte. Nun ging es den bereits schon ausgeaperten Gletschern so richtig ans «Eingemachte». Die Reuss führte bereits im Juli Tag für Tag hellgraues Schmelzwasser in Richtung Urnersee ab – ein untrügliches Zeichen für die einsetzende Gletscherschmelze in höheren Gebirgslagen.
Unser Team startete am 22. Juli ernsthaft in die neue Saison. Zur Verblüffung von uns allen herrschten Bedingungen, die man normalerweise erst gegen Ende September antrifft. Der Tiefengletscher zeigte seine eher hässliche Fratze: komplett ausgeapert, mit dementsprechend viel abgelagertem Schutt und einem Irrgarten aus grösseren Steinen. Die zahlreichen «Gletschertische» (horizontal liegende, flache Steine, die auf einem Eissockel liegen) thronten bereits auf Brusthöhe, wie wir beim Vorbeimarschieren ungläubig feststellten. Verrückt, welche gewaltigen Eismassen in zwei schönen Sommerwochen einfach so verschwinden. Interessanterweise hielten sich die Neufunde in Grenzen. Zwar kam viel frisches Gelände unter den dahinserbelnden Eisschildern zum Vorschein. Richtig gute Zonen mit entsprechenden Kluftanzeichen blieben aber rar. Entsprechend sah man die vereinzelten Strahlnerteams mehrheitlich beim Herumstöbern in den zahlreichen Felsrippen. Das Glück einer mehrtägig zu bearbeitenden Arbeitsstelle blieb den meisten vergönnt. Dies änderte sich für uns, als mein Bruder am Fuss eines Felspfeilers ein hübsches Klüftchen fand. Die erste Ausbeute sah vielversprechend aus, zeigte aber die typischen Druckschäden einer frisch aus dem Eis entlassenen Fundstelle. Am nächsten Tag trugen wir einen Schlegel und Spaltkeile vor Ort und rückten dem Fels zu Leibe. Die abgelösten Deckenstufen mit dunkelbraunen Rauchquarzspitzen nahmen wir freudig entgegen. Wie so oft, spielte eindringendes Schmelzwasser den Spielverderber und bildete an der Kluftbasis einen kleinen See. Am Folgetag war deshalb ein Stück Gartenschlauch im Rucksack verstaut.
Die physikalischen Naturgesetze von Druckausgleich und Vakuum nutzend, sogen wir das störende Wasser aus dem kleinen See. Dies funktioniert nach einem ersten Ansaugen völlig automatisch, solange der Ausfluss – das untere Schlauchende – stets tiefer liegt als der Wasserspiegel in der Kluft. Sobald die Pfütze trockengelegt war, blieben uns ein paar Minuten zum Grübeln im Lehm, bis das nachdrückende Wasser erneut die Kluft füllte. Das Spiel begann wieder von vorne und erinnerte uns an den bemitleidenswerten Sisyphus aus der griechischen Saga. In jenen Tagen blieb Sepp in tieferen Gefilden und widmeten sich den unteren Gletscherrändern. Bei meiner Rückkehr von der «Schlegel-Kluft» entdeckte ich ihn zufällig auf einer Geländeterrasse stehend, umringt vom Filmteam, welches uns seit zwei Sommern sporadisch begleitete. Vorsichtig näherte ich mich der Gruppe, wohlweislich darauf achtend, nicht in eine Filmszene zu platzen. Als Sepp mich erblickte und dabei schelmisch auf den Stockzähnen lächelte, ahnte ich bereits die Überraschung. Nach den paar wenigen Schritten auf die Plattform hoch, erblickte ich die Bescherung. Unser «Spürhund» hatte wieder einmal den richtigen Riecher gehabt und eine hübsche Kluft direkt am Bergschrund entdeckt. Im Schutt lag die sehr erfreuliche Tagesausbeute aufgereiht und bereit zum Verpacken. Welch glückliche Fügung für das mitgereiste Filmteam, welches die Kluft-Ernte von A bis Z aufzeichnen konnte.
Im August drangen auch Erfolgsmeldungen anderer Teams durch. Thomas Steinbrugger entdeckte bei einem «Gletscherspaziergang» eine sehr ergiebige Zone, die ihn mehrere Tage beschäftigte. Auch dort war ein Filmteam vor Ort, welches die Bergung für die ARTE 360° Reportage «Der Bergkristall, Schatz der Schweizer Alpen» hautnah miterleben und festhalten durfte. Das Team um den Berufsstrahlner Christoph Betschart stand ebenfalls im Fokus der Kamera. Das Schweizer Fernsehen SRF zeigte in ihrer DOK-Reihe auf eindrückliche Weise den harten Alltag eines Strahlners im Zwiespalt von Beruf und Familie. Eine zufällig entstandene und bestimmt einmalige Massierung von Filmschaffenden am Fusse des Galenstocks! Vielleicht muss der Tiefengletscher demnächst in «Hollywood-Glacier» umbenennt werden? Wie dem «Buschtelefon» zu entnehmen war, ist auch die Jahrhundertkluft am Planggenstock erneut ins mediale Interesse gerückt. Dürfen wir in Zukunft weitere, bestimmt aufsehenerregende Funde vom Team Franz von Arx und Elio Müller am heimischen Bildschirm bestaunen? Lassen wir uns überraschen. Die neu eröffnete Ausstellung in Amsteg, wo die beiden auch ihre neuen Funde reinigen und formatieren, zeigt jetzt schon eindrückliche Muster ihrer neuesten Entdeckungen. Angesicht der investierten Mittel und Arbeitsstunden ein wohl verdienter Lohn!
Das meist trockene und warme Wetter hielt den ganzen August durch an und setzte den Gletschern unvermindert und massiv zu. Unter den «Gletschertischen» konnte man nun problemlos durchlaufen und erreichte mancherorts noch knapp mit der ausgestreckten Hand die Unterseite der aufliegenden Felsplatten. Für uns Strahlner eine perfekte Konstellation, für den Wasserhaushalt der Alpen aber eine bedenkliche Entwicklung. Insgeheim tat mir das Schwinden der Eismassen weh, obwohl dadurch viel Neuland zum Vorschein kommt. Wo führt das hin, wenn es in diesem Tempo weitergeht?
Wie diese warme und trockene Witterung die Fundmöglichkeiten steigern kann, leider aber auch die objektiven Gefahren am Berg negativ beeinflusst, entnehmen wir meinem Eintrag ins Biwakbuch:
25. August 2022
Einer dieser Tage, die immer in Erinnerung bleiben. Wir starten gemütlich, lassen uns von der warmen Sonne aus dem Schlafsack treiben und beginnen unseren Strahlnertag mit einem Abstieg. Graue-Wand-Kessel und Winterstock-Kessel sind unsere heutigen Ziele. Kurt und Bruno entgehen haarscharf einem massiven Steinschlag in der Zustiegsrinne zum Graue-Wand-Kessel. Fünf Minuten entscheiden über Leben und Tod. Sepp steigt im Winterstock-Kessel weit hoch und findet schliesslich zwei neue Löcher am Rand von einem Eisfeld. Da Kurt und Bruno nicht fündig werden, besuchen sie Sepp bei seiner neuen Stelle. Mit fleissiger Spitzarbeit können wir die eine Stelle erweitern und bergen wunderschöne Stufen. Die Sache sieht vielversprechend aus. Nach heiklem, schwerbeladenem Abstieg verstecken wir das Fundmaterial unter einem Stein und steigen unbeschwert ins Biwak hoch. Sepp hat beim Morgenessen von einem guten Gefühl gesprochen. Er sollte recht bekommen! Unser ältestes Teammitglied weiss immer noch, wie es geht. Das wär äs Läbä!
Mitte September - eigentlich die beste Zeit für uns Hochgebirgs-Strahlner – änderte sich die Wettersituation grundlegend. Der erste Schneefall bis 1700 Meter hinab wurde angekündigt. Tatsächlich läutete diese Kaltfront das vorzeitige Saisonende ein. Bei unserem letzten Besuch im Biwak lagen am 11. Oktober 2022 rund 80 cm hart gepresster Neuschnee auf dem Vorplatz. Wir winterten das Material ein, schlürften ein letztes Schnaps-Kaffee und stiegen dankbar und zufrieden ins Tal – gespannt darauf, was die kommende Saison wohl alles für Überraschungen bereithalten wird. Ich wünsche allen Strahlnern viel Erfolg und gesunde Heimkehr von ihren Streifzügen.