Eine kleine Herbstkluft
Eine kleine Herbstkluft
Bruno Müller
In der Fachliteratur, aber auch beim Durchstöbern von Sozialen Medien wie Facebook und Instagram stösst man immer wieder auf erfolgreiche Fundberichte von glücklichen Strahlern. Natürlich werden in diesen geposteten Beiträgen die gefunden Kristalle von ihrer besten Seite gezeigt. Atemberaubende Landschaften, perspektivisch optimal in Szene gesetzte Tiefblicke und die oft noch kluftfrischen, nassen Mineralienstufen vermitteln aber oft ein falsches Bild. Der schnelle Erfolg beim Strahlnen ist keineswegs garantiert. Wie viele Stunden ergebnislose Suche hinter diesen verführerischen Bildern stecken, kann jeder aktive Strahlner wohl selbst erahnen.
Meine kleine Geschichte schildert den Alltag eines Kristallsuchers, wie er in der Realität leider viel zu oft erlebt wird. All die vergossene Schweisstropfen, die brennenden Waden beim Aufstieg über ein steiles Eisfeld und die blutenden Schürfwunden beim Bearbeiten einer Kluft sind ernüchternde Gegensätze zu den erwähnten, reich bebilderten Erfolgsgeschichten. Die Enttäuschung, wenn sich der erhoffte Fund nicht einstellen will, ist genauso Bestandteil des Strahlnerdaseins, wie die dünn gesäten ergiebigen Momente. Die trüben Gedanken bei einem Misserfolg wieder in positive Energie umzuwandeln, gehört wohl zu den grössten Herausforderungen beim Strahlnen. Es sind aber genau diese im Hinterkopf gespeicherten Bilder und Erinnerungen von erfolgreichen Funden, die uns immer wieder aufbrechen lassen und uns mit jedem neuen Tag Hoffnung schöpfen lassen.
Im September 2020 war ich zusammen mit meinen Strahlnerfreunden fast täglich unterwegs in unserem Stammgebiet. Nach einer eher zögerlichen Schneeschmelze im Vorsommer präsentierte sich nun der Gletscher und seine erfolgsversprechenden Felsränder sehr gut ausgeapert. Wir drehten unsere gewohnten Runden, befreiten immer wieder einen vermeintlichen Kluftsatz vom darauf liegenden Schutt und stolperten dabei etliche Male über unsere alten Grabstätten aus den Vorjahren. „Ein kleiner Tapetenwechsel würde wohl nicht schaden“ bemerkte ich zu meinem Neffen Emanuel. Ihm war ebenfalls anzumerken, wie diese tägliche Routine in bestens bekanntem Gefilde langsam zermürbende Gedanken aufkommen liess. „Komm, wir besuchen doch den Felskessel der Grauen Wand“ schlug ich ihm spontan vor. Im Jahrhundertsommer 2003 hatten wir dort eine Serie von neuen Klüften entdeckt, die aus dem steilen Eisfeld herausgeschmolzen wurden. In den Folgejahren besuchten wir immer wieder dieses wilde Amphitheater, konnten aber keine weiteren Kristall-Hohlräume mehr entdecken.
Die letzten zwei Jahre blieb der Altschnee in dem steilen Kessel bis spät in den Herbst hinein liegen. In diesem Herbst aber konnten wir deutlich erkennen, dass wieder Neuland zum Vorschein kam. Emanuel, der noch nie diese Geländekammer besucht hatte, war sofort Feuer und Flamme für meinen Vorschlag. Ungewohnt begann am nächsten Morgen unser Strahlnertag mit einem Abstieg von unserem Biwak. Da es bereits Samstag war und eine abendliche Heimkehr ins Tal auf dem Programm stand, waren unsere Rucksäcke mit den wöchentlichen Funden und der Schmutzwäsche bereits schon ordentlich gefüllt. Dieses Material deponierten wir am Fusse des Firnkessels und versteckten es unauffällig unter grossen Granitblöcken. Die stinkenden Socken und verschwitzten T-Shirts erschienen uns zwar alles andere als diebstahlgefährdet; die eine oder andere unter den geborgenen Kristallstufe wäre aber sicher ein gefundenes Fressen für zufällig vorbeikommende Bergsteiger und Kletterer gewesen.
Bewehrt mit Pickel und Steigeisen starteten wir von unserem Materialdepot und suchten systematisch die Ränder des zunehmend steiler werdenden Firnfelds ab. Die pickelharte Schneeauflage erlaubte ein kraftschonendes Aufsteigen und die im Saisonverlauf doch schon etwas abgeschliffen Zacken unserer Fusseisen fanden trotzdem optimalen Halt. Ungefähr in Kesselmitte verschwand das Firnfeld und machte Platz für gut gestufte Felsbuckel, die von Quarzbändern durchzogen waren. In diesem Abschnitt hatte unser Strahlnerkollege Sepp im Sommer 2003 eine frisch ausgeaperte Kluft entdeckt, die ihn mit grossen, wasserklaren Quarzspitzen belohnte. Unweit davon fanden wir in den folgenden Wochen weitere Hohlräume mit guter Kristallisation.
Ich zeigte Emanuel unsere damaligen Fundstellen, was bei ihm ein anerkennendes Nicken auslöste. Seine bereits erfreulich hohe Motivation bekam zusätzlichen Schub. Wir grübelten für eine kurzen Moment im Kluftschutt der alten Stellen, mussten aber rasch feststellen, dass hier nichts mehr zu holen war. Während Emanuel die frei gewordenen Felsbuckel genauer inspizieren wollte, machte ich mich an den weiteren Aufstieg über das darüber liegende, erneut ansetzende Firnfeld. Dieses war deutlich steiler als das untere Feld, zudem verlangten die tief eingeschnittenen Bergschründe in den Randzonen erhöhte Aufmerksamkeit. Aus Gründen der Effizienz nahm ich nur das Allernötigste in meinem Rucksack mit und „bewaffnete“ mich nur mit dem Gletscherpickel. Der linke Rand des harten Firnfelds diente mir dabei als logische Aufstiegsroute. Der Schweiss tropfte unablässig und die Waden brannten vom ständigen Stehen auf den Frontalzacken.
Am höchsten Punkt des Firnfelds erlaubte mir eine fragile Schneebrücke den heiklen Übergang in die grobkörnigen Granitplatten. Schmale Felsbänder und schotterbewehrte Terrassen erlaubten ein Absuchen dieser anstehenden Felsfluchten. Schon wieder im Abstiegsmodus entlang dem rechten Rand, gewahrte ich schliesslich ein hübsch verlaufendes Quarzband. Leider konnte ich hier - nur mit dem Gletscherpickel ausgestattet - sehr wenig bis gar nichts bewirken. Glücklicherweise aber hatte ich eine kleine Farbbüchse mit Pinsel dabei und belegte die verdächtige Stelle mit meinem Monogramm und der aktuellen Jahreszahl. So machte ich mich konzentriert auf den Abstieg und traf im felsigen Mittelteil auf meinen Begleiter, der inzwischen erfolglos all die Felsen akribisch genau untersucht hatte. Wir zogen ins Tal hinaus, schulterten unterwegs unseren deponierten Plunder und erreichten müde und zufrieden den Parkplatz beim Tätsch.
In der folgenden Woche machte ich mich erneut auf den Weg ins Biwak hoch. Ich war alleine unterwegs und deponierte diesmal die frischen Lebensmittel für eine Strahlnerwoche unter dem Granitblock am Fusse des Firnkessels. Auf direktem Weg stieg ich zu meiner belegten Stelle hoch und führte nun auch das passende Werkzeug im Rucksack mit. Vor Ort gefiel mir das Quarzband immer noch gut und meine Hoffnung auf eine schöne Kluft war ungebrochen. Zuerst musste aber die Baustellen-Installation so gut als möglich erstellt werden. Das schmale Felssims bot nur wenig Ablagefläche und auch das Stehen oder Knien vor dem Quarzband gestaltete sich eher mühsam. Voller Elan setzte ich mein Spitzeisen an und konnte relativ rasch erste Brocken vom kristallinen Band ablösen. Welch ein Unterschied zum wirkungslosen Herumwerkeln mit dem Pickel wenige Tage zuvor. Plötzlich zeigten sich unten am Quarzband erste kleine Anhäufungen von braunem Kluftlehm. Ich setzte mich kurz hin, gönnte mir eine Prise Schnupftabak und genoss diesen Moment freudiger Erwartung. Lange hielt ich es nicht aus: Ich spitzte an der linken Begrenzung weiter und trieb das Spitzeisen kurz darauf ins Leere.
Oho! Bald war die kleine Öffnung erweitert und mit dem Grübler konnte ich ein erstes Grüppchen herausfischen. „So darf es ruhig weitergehen“ waren die ersten Worte eines kurzen Monologs. Zusammen mit dem braunen Kluftlehm durfte ich weitere, wenn auch kleine Quarzspitzen bergen. War dies die ersehnte Kluft, von der ich seit der Entdeckung dieser Stelle geträumt hatte? Eine Inspektion mit dem Klufthaken beantwortete rasch meine dringliche Frage: Nach knapp 20 cm Hohlraum stiess ich bereits wieder allseits auf harten Fels. Ich spitzte noch eine gute halbe Stunde weiter und musste mir schlussendlich eingestehen, dass mir hier nur eine kleine Klufttasche gegönnt war. Eine leise Enttäuschung machte sich breit, die aber wieder zum Abklingen kam, als ich die fantastische Umgebung und die wärmenden Sonnenstrahlen bewusster wahrnahm. Vielleicht klappt es beim nächsten Mal besser! Solche nicht gänzlich erfüllten Erwartungen gehören ganz einfach zum Alltag eines Strahlners. Vorsichtig packte ich die wenigen Fundstücke ein, machte mich konzentriert auf den heiklen Abstieg und trug die deponierten Lebensmittel hoch ins Biwak. Der zauberhafte Abend allein in meiner temporären Behausung sorgte für neue Motivation. Bereits am nächsten Morgen besuchte ich wieder das bestens bekannte Fundgebiet und drehte routiniert meine Runden auf der Suche nach den verborgenen Schätzen unserer Berge. Irgendwann wird mir das nötige Quantum Glück sicher wieder hold sein…