Saisonrückblick 2015
Meine persönliche Strahlersaison 2015
Kurt Müller, Erstfeld
Die kürzer werdenden Tage, sowie das Ende der langen Schönwetterperiode im November, veranlassen mich, mit Freude und Zufriedenheit auf das vergangene Strahlnerjahr zurück zu blicken. Ein weiterer Grund, meine Erlebnisse nieder zu schreiben, ist die Tatsache, dass ich nach kürzlich überstandener Kreuzband-OP momentan genügend Zeit finde, und diese sinnvoll nutzen möchte. Immer mehr Erlebnisse, die ich am Berg erleben durfte, tauchen vor meineminneren Auge auf: Das perfekte Wetter im vergangenen Jahr, die vielen erfolgreichen und auch weniger erfolgreichen Touren auf der Suche nach den funkelnden Schätzen, die gemütlichen und humorvollen Biwakabende bei unseren Nachbarn, die stimmungsvollen Sonnenaufgänge, sowie das nicht selbstverständliche Heimkehren mit gesunden Knochen.
Wie in den letzten Jahren üblich, eröffne ich meine persönliche Saison mit einem Streifzug ins Intschitobel. Ein Besuch dieses klassischen Fundgebietes gehört für mich im Frühling einfach dazu. Vielleicht hat ja der Frost der letzten Monate der Erosion da und dort nachgeholfen und neue Klüfte freigelegt? Auch an alten, bekannten Stellen investiere ich gerne etwas Zeit. Der Tag ist angenehm, das Wetter hält und die Temperaturen sind erträglich. Der Rucksack bleibt aber an diesem Tag leer. Nun, es kann nicht immer Weihnachten oder Ostern sein. Trotzdem mache ich mit einem guten Gefühl Feierabend. Von einer Strahlertour kehrt man nie vergebens nach Hause. Es gibt immer Eindrücke und neue Erkenntnisse, man muss sie nur richtig einordnen. Zudem ist das Jahr noch jung - abgerechnet wird dann Ende Saison.
Der eigentliche Startschuss für die Strahlerei im Hochgebirge erfolgt dann im Juni. Obwohl noch sehr viel Schnee in den höheren Regionen liegt, lassen wir es uns nicht nehmen, eine erste Erkundungstour zu starten. Die Wahl fällt dabei auf die Graue Wand. Nicht verwunderlich, sind wir doch seit 2012 regelmässig an unserer mittlerweile liebgewonnen Kluft, hoch oben in dieser 350 Meter hohen, ausgesetzten Senkrechten anzutreffen. Graue Wand - das heisst auch immer wieder einen Kraftakt zu vollbringen: Zustieg vom Tätsch bis zum Wandeinstieg, 1 ½ Stunden; acht Seillängen Kletterei im sechsten Schwierigkeitsgrad, 2 Stunden; Einrichten und exponiertes Arbeiten in der Kluft, 3-4 Stunden; konzentriertes Abseilen mit meistens doch schweren Rucksäcken, 1 Stunde; und zu guter Letzt der Rückweg zum Tätsch, 1 ½ Stunden.
Sie sehen, liebe Leserinnen und Leser, geschenkt wird einem nichts, und wenn die Strahlerei so einfach wäre, würden es wohl sehr viel andere auch machen. Heute kam noch erschwerend dazu, dass der noch reichlich vorhandene Schnee uns zwang, bereits vom Tiefenbach weg loszulaufen. Der Besuch dieser Fundstelle früh im Jahr hat aber den Vorteil, dass uns wenige bis gar keine Kletterer bei der Arbeit stören. Es erlaubt uns zudem, den anfallenden Schutt und die defekten Stufen ungehindert und ohne Gefahr für andere über die Felswand in die Tiefe zu befördern. Auch dieses Mal beschenkt uns die Kluft mit vielen herrlichen Stufen. In der Folge sind wir noch zwei weitere Male an der Fundstelle oben und kehren jedes Mal gesund und vollbeladen zurück. Aktuell weist die Kluft eine Tiefe von fünf Metern auf, was mittlerweile das Arbeiten sehr erschwert und uns vor weitere Herausforderungen stellt.
Am ersten Wochenende im August geht traditionsgemäss die Börse Disentis über die Bühne. Es ist immer wieder schön, bekannte Gesichter zu sehen und über bereits getätigte oder noch bevorstehende Strahlertouren zu diskutieren. Für mich ist es der Beginn der eigentlichen Strahlerferien. Bereits am darauf folgenden Montag sind wir im Aufstieg zu unserem Biwak. Jenes Biwak, das uns schon seit vielen Jahren als hilfreicher Stütz- und Ausgangspunkt für die jeweiligen Strahlertouren dient. Aber auch hier oben nagt der Zahn der Zeit an der Infrastruktur. Wind und Wetter haben da und dort kleinere Schäden angerichtet. So sehen wir uns gezwungen, einen Tag zu investieren, um das Biwak mit diversen Reparaturen und Verbesserungen wieder aufzuwerten. Den schon lange von uns gehegten Wunsch, die Liegestätte zu verbessern, wollen wir am kommenden Tag in die Tat umsetzen. Da unser treuer Partner Sepp mit starken Hüftbeschwerden zu kämpfen hat und leider nicht in der Lage ist, den Aufstieg aus eigener Kraft zu bewältigen, hat er sich selbstlos dazu bereit erklärt, alles nötige Material bereit zu stellen und den Helikopterflug zu organisieren. Er wird dann morgen ohne Kraftaufwand zusammen mit dem Material einschweben. Zuerst aber wollen wir den heutigen Tag nutzen, um das Gebiet nach neuen Fundstellen abzusuchen.
Am schönen und weiterhin stabilen Hochdruckwetter soll es nicht liegen. Während Bruno und Emanuel am Rande des Tiefengletschers verdächtige Stellen verfolgen, will ich meinerseits eine Kesselrunde absolvieren. Das ist nur einer von vielen Vorteilen, welche ein eingespieltes Strahlerteam bietet.
Am Abend treffen wir uns wie verabredet beim Biwak. Da nur Bruno im Biwak anwesend ist, frage ich erstaunt: „Wo ist denn Emanuel?“ Er antwortet mir, dass sie zusammen eine Stelle bearbeitet hätten, im Verlaufe der Arbeiten aber ein veritabler Krach zwischen ihnen entstanden sei, wobei Emanuel wortlos seinen Rucksack ergriffen habe und ins Tal abgestiegen sei. Mein Entsetzen über diese Nachricht quittiert Bruno mit einem breiten Grinsen und klärt mich auf. Sie seien tatsächlich auf eine offene Kluft gestossen, die der Gletscher frei gegeben hätte. Diese Stelle sei so ergiebig gewesen, dass Manuel sich bereits mit einer schweren Ladung Richtung Tal aufgemacht habe. Er werde dann morgen mit dem vorgesehenen Heli-Transport wieder zu uns stossen. So macht es natürlich doppelt Freude, wenn einem der Auftakt zu dieser Woche so gut gelingt. Nach einem köstlichen Nachtessen, statten wir unseren Biwak-Nachbarn Freddy und Sepp einen Höflichkeitsbesuch ab, welcher standesgemäss mit einem guten Kaffee Schnaps abgerundet wird. Bei angenehmen Temperaturen kriechen wir gut gelaunt in die Schlafsäcke.
Am darauf folgenden Tag setzen wir unser Vorhaben in die Tat um, und holen so den zweiten „Stern“ für unsere temporäre Sommerresidenz. Den ganzen Vormittag sind wir damit beschäftigt, das Biwak zu verschönern. Die mittlerweile eingetroffenen Emanuel und Sepp helfen tatkräftig mit. Mit vereinten Kräften dauern die Arbeiten weniger lange als voraussichtlich geplant. So bleibt uns, bei weiterhin perfektem Wetter, noch genügend Zeit um an den am Vortag gefundenen Klüften weiter zu arbeiten. Auch heute kehren wir schwerbeladen von den Fundstellen zurück. Wieder haben die Berge etwas von ihren Geheimnissen preisgegeben. Wir sind glücklich über die gemachten Funde und über den herrlichen Tag in freier Natur.
Am darauf folgenden Tag besuchen wir zu dritt diverse alte Stellen in der Nordwand des Gletschhorns. Für Sepp ist es leider im Moment nicht möglich, mit uns Schritt zu halten. Er wird sich in unmittelbarere Nähe vom Biwak die Zeit vertreiben. Die über zwei Jahrzehnte lange Strahlertätigkeit in diesem Gebiet hat Spuren hinterlassen. Es gibt kaum noch eine zugängliche Felspartie, die nicht von uns schon einmal bearbeitet wurde. Bruno und Emanuel werkeln abwechslungsweise an einer alten Kluft. Die warmen Temperaturen der letzten Tage haben ihnen in die Karten gespielt, und der auf dieser Höhe allgegenwärtige Permafrost musste dadurch ein paar Zentimeter weichen. So gelingt es ihnen noch eine stattliche Anzahl schöner Spitzen mit gutem Glanz zu bergen. Ich für meinen Teil erkunde die nähere Umgebung, kehre aber ohne etwas Verwertbares zurück. Die Zeit verrinnt viel zu schnell. Zu vorgerückter Stunde müssen wir bereits wieder den Heimweg zum Biwak antreten, gilt es doch noch die 200 Höhenmeter zum Oberen Gletschjoch zu überwinden. Auch die heiklen Plattenquergänge erfordern noch einmal höchste Konzentration. Aber es verläuft alles reibungslos, und so erreichen wir das Obere Gletschjoch ohne nennenswerte Probleme. Der weitere Abstieg zum Biwak ist dann nur noch Formsache. Was folgt ist immer das Gleiche: Ankunft im Biwak, eine kurze Wäsche (wobei es immer nur der Eine ist, der sich dazu aufrafft), das Wechseln der Kleider, der obligate Kaffee, Nachtessen vorbereiten, Tagebuch nachführen, usw. Mittlerweile reine Routine eben. Wieder geht ein fantastischer Tag, von dessen Eindrücken man noch lange zehren kann, zu Ende.
Am nächsten Morgen weckt uns die Sonne kurz vor sieben Uhr. Anhand der Wolkenbildung erkennen wir sofort, dass sich da ein Wetterumschwung ankündigt. Aber für heute sollte es noch einmal halten. Wir beschliessen dem Gebiet Tiefenstock, inklusive Verbindungsgrat zum Galenstock, einen Besuch abzustatten. Seit vielen Jahren waren wir nicht mehr in diesem Gebiet. Wer weiss, vielleicht hat auch hier der Gletscherrückgang wieder etwas freigegeben. Die wärmenden Sonnenstrahlen bringen unsere Körper langsam auf Betriebstemperatur und lassen die Müdigkeit vergessen. Und der reichlich gedeckte Frühstückstisch lädt zum Auffüllen der Kalorienspeicher ein. Nach einer guten Stunde Marsch über den blanken Tiefengletscher erreichen wir die Steilstufe, die auf den Verbindungsgrat führt. Hier erleichtern vor kurzem angebrachte Eisenbügel den Aufstieg durch die vertikale Wand und somit den Zugang zum Nördlichen Tiefensattel. Kurze Zeit später erreichen wir die unscheinbare Einsattelung am Grat. Leichtes Blockgelände, durchsetzt mit kurzen Restschneefeldern, führt uns weiter in Richtung Gipfel, wo wir uns kurze Zeit später mit einem kräftigen Händedruck gegenseitig gratulieren. Auch eine erfolgreiche Gipfelbesteigung gehört ab und zu zum Strahlerleben. Der Blick ins Göscheneralptal mit seinem smaragdgrünen See ist immer wieder von Neuem faszinierend. Beeindruckt von dieser herrlichen Szenerie geniesst jeder, in seine eigenen Gedanken versunken, diese Stille. Wenig später wird um den neuen Feldstecher von Emanuel heftig gestritten, denn alle gleichzeitig können nicht durch die Linse gucken. Dann aber erwacht eine weitere Leidenschaft der Müller-Buben hier oben in diesem idealen Gelände zum Leben: das „Steitrelä“! Die annähernd 400 Meter hohe Ostflanke lädt ja gerade dazu ein. Es wäre ja echt schade, diese grossen Blöcke, die förmlich danach schreien über die Wand geworfen zu werden, einfach hier liegen zu lassen. So verbringen wir die nächsten paar Minuten damit, mittlere bis grössere Gesteinsblöcke über die Ostflanke auf den weit unten liegenden Dammagletscher zu befördern. Dank dem guten Einblick in die Wand und der vorgängigen Vergewisserung, dass sich wirklich auch niemand darin befindet, ist dies gefahrlos möglich. Je lauter das Grollen, je intensiver der Schwefelgeruch, umso grösser unsere Freude. Ja, ja, da erwacht das Kind im Manne!
So jetzt aber genug gespielt. Wir besinnen uns wieder auf unsere eigentlichen Interessen und verteilen uns im Gelände. Jeder für sich macht sich auf die Suche nach Kristallen. Ich für meinen Teil steige Richtung Verbindungsgrat zum Galenstock, besuche die eine oder andere alte Stelle, verfolge lange Zeit ohne Ergebnis ein mir verdächtiges Quarzband und geniesse einfach nur die Momente in den Bergen, die einem so viel geben. Zu fortgeschrittener Stunde sind wir dann wieder alle vereint am abgemachten Treffpunkt. Die Funde sind heute bescheiden ausgefallen. Trotzdem war es wieder ein erfolgreicher Tag. Der Abstieg über die Eisenbügel geht zügig vonstatten, und kurze Zeit später stehen wir bei Freddy und Sepp an ihrer Morionstelle, wo sie uns - wie immer - zu einem Bier einladen. An dieser Stelle einmal mehr herzlichen Dank für eure tolle Gastfreundschaft. Da sich das Wetter in der Zwischenzeit, wie wir vorausgesehen haben, verschlechtert hat, beschliessen wir morgen Freitag ins Tal abzusteigen. Somit endet eine eindrückliche Woche mit vielen, sicher nachwirkenden, Eindrücken hier oben am Tiefengletscher.
Die Schlechtwetterperiode hat dann leider doch länger gedauert als uns lieb war. Eine hartnäckige Kaltfront trieb den Schnee teilweise unter die 3000 Meter Marke. Und die nächsten zehn Tage geniesse ich am Meer auf Kreta. Ich weiss aber, dass Bruno und Emanuel bei wieder tollem Wetter oben an der Arbeit sind, was mich ganz ungeduldig und kribbelig macht, so dass ich meiner Frau langsam auf die Nerven gehe. Zum Glück bleibt das Wetter mit kleinen Unterbrüchen weiterhin auf der guten Seite. So kommt es, dass ich die beiden letzten Ferienwochen noch voll für die Strahlerei einsetzen kann. Wieder sind wir oben in unserem Biwak am Fusse des Gletschhorns. Während Bruno an seiner Fundstelle weiter Vortrieb leistet, bin ich meiner inzwischen vertrauten Stelle in der Gletschhorn-Nordwand am Arbeiten. Sie hat mir bereits viele hochglänzende, teilweise geschlossene Gwindel geschenkt. Mal schauen, was der heutige Tag so alles zu bieten hat. Beim letzten Mal wurde ich das Gefühl nicht los, ich sei am Kluftende angelangt. Nun muss ich aber erfreut feststellen, dass ich damals glücklicherweise falsch lag. Gefroren war es! Heute kann ich ganz leicht mit meinem extra langen Schaber eine Stufe nach der anderen aus dem nun aufgetauten Chlorit-Lehm-Gemisch herausfischen. Und was ich da ans Tageslicht befördere, verschlägt mir fast die Sprache. Gwindel in diversen Grössen, teilweise geschlossen und mit einem Glanz und einer Transparenz, wie ich sie selten gesehen habe. Im tiefsten Inneren bin ich dankbar und glücklich über diese Geschenke, wer auch immer für diese Wunderwerke der Natur verantwortlich ist. Wahrlich wieder einer dieser Tage, an dem man sich wünscht, er würde nie vergehen.
Wie beim Bergsteigen, so auch beim Strahlen, locken letztlich nicht Gewinn und Erfolg. Vielmehr ist es der eigene Zauber der Kristalle, der jene nicht mehr loslässt, die einmal von diesem Virus befallen sind. Sorgfältig werden die filigranen Stücke verpackt und im Rucksack verstaut. Heute habe ich mehr Qualität als Quantität geladen. Mein Rücken wird es mir danken. Als ich beim Steinmann, in unmittelbarer Nähe unseres Biwaks eintreffe, sitzt Bruno bereits da und erwartet mich. Schon an meinem breiten Grinsen erkennt er, dass da was im Busch sein muss. Auf seine Frage, „hesch eppis gfundä“ antworte ich nicht, sondern packe sogleich zwei drei Muster aus und halte sie ihm unter die Nase. Auch er ist fasziniert vom Glanz und der Transparenz dieser Stücke und gratuliert mir von Herzen. Das ist eben ein weiterer Vorteil eines Teams: Irgendeiner findet immer Steine, egal wer es ist. Man hat ehrliche Freude und teilt diese miteinander. So geniessen wir noch die letzten Sonnenstrahlen an diesem Tag, bevor wir uns Richtung Biwak aufmachen. Bei einem deftigen Abendessen inklusive einem guten Glas Wein, diskutieren wir noch lange über den heutigen Tag.
Bis Anfang Oktober sind wir immer wieder vereinzelte Tage oben am Berg. Die Saison aber geht langsam dem Ende entgegen. Der Schnee ist zwischenzeitlich bedrohlich nahe an unsern Stellen, und auf den nordseitigen Gebieten mussten wir schon vor einigen Tagen, in Folge Frost, die Arbeit einstellen. Die Tage werden kürzer und die Nächte kälter. So wird das Biwak winterfest gemacht. Eine für uns erfolgreiche Saison findet seinen Abschluss. Was bleibt, sind Erinnerungen und Momente voller Glück. Momente die man selber erleben muss, die man nicht in Worte fassen kann.
Liebe Leserinnen und Leser, ich danke Ihnen für die Zeit, die Sie mir geschenkt haben, um meinen Rückblick zu lesen. Ich wünsche Ihnen für die kommende Saison eine unfallfreie Zeit und viele eindrückliche Momente in unserer herrlichen Natur. Was gibt es schöneres, als die Suche nach den funkelnden Steinen in unserer imposanten Bergwelt.